reisemedizin

Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft
zusammengestellt von Dr. Uwe Meya

20. Dezember 2022
Nach DNA-Proben nun auch Iris-Scanning: China weitet biometrische Erfassung aus
Nach dem Sammeln von DNA-Proben, die mittlerweile von etwa 69% der tibetischen Bevölkerung erhoben wurden [vergl. Tibet-Information vom 15. September 2022; UM], scheint die chinesische Polizei die biometrische Erfassung um Iris-Scans zu erweitern. Schon im Februar 2020 hatte das Online-Magazin Bitter Winter auf Iris-Scans aufmerksam gemacht, die von der Bevölkerung im Norden Tibets in der chinesischen Provinz Qinghai gesammelt werden. Die International Campaign for Tibet (ICT) schliesst nach weiteren Recherchen, dass zwischen März 2019 und Juli 2022 Scans von insgesamt etwa 1.2 bis 1.4 Millionen Einwohnern von Qinghai, darunter auch von Kindern, erhoben und in Datenbanken der Polizei gespeichert sind. Das macht etwa 21% bis 25% der 5.9 Millionen umfassenden Bevölkerung von Qinghai aus. Genau die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Tibetern und Hui-Muslimen, die andere Hälfte aus Han-Chinesen.

Die Zahlen basieren auf einer Auswertung öffentlich zugänglicher Regierungsdokumente. Die Betroffenen hatten keine Möglichkeit, die Scans abzulesen, wie eine Mitteilung der Polizei an die Ortschaft Haidong im Bezirk Ledu zeigt: «Alle Dorfbewohner müssen vor Juni [2020] zur Polizeistation kommen, um Iris-Scans durchzuführen. Ansonsten werden wir Sie zur Verantwortung ziehen». Und weiter, Verweigerung der Scans mache es für sie in der Zukunft «schwierig, Tickets für Reisen zu kaufen oder Bargeld zu beziehen.»

Hintergrund: Iris-Scans
Iris-Scans werden mit einer Infrarot-Kamera durchgeführt, die 200 Merkmale der Iris (Regenbogenhaus des Auges) erfasst. Diese werden digitalisiert und zum Abruf in einer Datenbank gespeichert. Grenzwachen, Einwanderungsbehörden und auch das Militär haben schon lange Iris-Scans zur Identifikation von Personen verwendet. Auch werden diese teilweise zur Legitimierung im Zahlungsverkehr verwendet. Die Identifikation einzelner Personen wird umso treffsicherer, je mehr Individuen sich scannen und ihre Daten zum Abruf speichern lassen.

China hat Iris-Scans seit etwa 2015 verwendet, zunächst zur Auffindung vermisster Kinder. Seit 2017 werden massenhaft Iris-Scans in Ost-Turkestan (chin. Xinjiang) durchgeführt, zusammen mit DNA-Proben, Fingerabdrücken und Gesichts-Scans und in einer Datenbank in der Hauptstadt Urumqi gespeichert. Laut lokalen Polizeibehörden dienen die Daten zur Identifikation von «Zielpersonen». Diese sind unter anderem solche, die “Separatismus, Terrorismus, Extremismus oder andere Gefahren für die soziale Stabilität» fördern.

Neue Bürgermeister in Tibets grössten Städten
In gleich drei Städten, Lhasa, Shigatse und Chamdo, wurden am gleichen Tag neue Bürgermeister ernannt. In Lhasa und Shigatse sind dieses Chinesen, in Chamdo ein Tibeter. Die Wahl obliegt eigentlich den lokalen Parlamenten, de facto aber bestimmt die Partei die neuen Amtsträger.

Der frühere Bürgermeister von Lhasa, der in der Bevölkerung unbeliebte Tibeter Gho Khog, wird angeblich der «Korruption» bezichtigt. Keine der Ernennungen wurden allerdings offiziell begründet. Der neue Bürgermeister von Lhasa, Wang Qiang, kam über das «Hilfe für Tibet» Programm in seine Ämter. Die Ernennung dürfte die Verdrängung von tibetischer Religion, Sprache und Kultur verstärken und liegt auf der Linie des neuen, ebenfalls chinesischen Parteisekretärs der «Autonomen Region Tibet» (TAR), Wang Junzheng, der im Februar 2022 auf einer Parteikonferenz in Lhasa von einer «neuen Reise zu einem sozialistischen, modernisierten Tibet» sprach. Allgemein wird davon ausgegangen, dass sich der Zustrom chinesischer Siedler und Arbeiter verstärken wird.

Religiöse Feste im Dezember verboten
Im Dezember wurden trotz der Lockerungen der Covid-Restriktionen zwei religiöse Feste verboten. Am 7. Dezember durfte niemand in den zentralen Jokhang-Tempel in Lhasa, um das Fest der Schutzgottheit der tibetischen Religion und des Dalai Lama, Palden Lhamo, zu begehen. Und am 18. Dezember waren alle grossen Klöster in Zentraltibet (Ganden, Drepung und Sera) und die Haupttempel in Lhasa (Jokhang und Ramoche) geschlossen. Traditionell feiert die Bevölkerung an diesem Tag das Ganden Ngamchoe Fest zur Erinnerung an den Todestag des Gelehrten Je Tsongkhapa (1357-1419).

Bitter Winter, 25. Februar 2020
International Campaign for Tibet (ICT), 17. und 19. Dezember 2022

 

6. Dezember 2022
Chinas illegale Polizeistationen: Bericht belegt grösseren Umfang
Die illegalen Polizeistationen, von China «Servicestationen» genannt, haben eine längere Geschichte und einen grösseren Umfang mit Einschüchterungen und Rückführungen von Betroffenen unter Zwang und Druck als bisher bekannt [vergl. dazu Tibet-Information vom 9. November 2022; UM]. Die Regierungen von 14 Ländern haben Untersuchungen gegen diese «Stationen» eingeleitet. In Kanada wurde der chinesische Botschafter einbestellt. Die Regierung in Irland liess die «Station» in Dublin schliessen.

Ein ausführlicher Bericht von Safeguard Defenders, der für Recherchen in China öffentlich zugängliche Dokumente verwendet, belegt 110 dieser «Stationen» in 53 Ländern. Der Start des Programms erfolgte bereits im Jahr 2015 in Italien. Neben Italien wurde das Einrichten dieser «Stationen» zunächst in einer «Pilotphase» auch in Kroatien, Rumänien und Serbien erprobt, bevor diese weltweit etabliert wurden. Weiterhin widerlegt der Bericht Einlassungen der chinesischen Regierung, dass es sich bei den Mitarbeitenden um «Freiwillige» handele. Regierungsoffizielle Dokumente aus China, die Safeguard Defenders auswertete, belegen gezielte Einstellungen von Personal in mehreren Ländern. Schon für die ersten 21 «Stationen» wurden 135 Mitarbeitende eingestellt.

Federführend bei der Einrichtung und dem Betrieb dieser “Stationen» sind die Polizeidistrikte Nantong, Wenzhou, Qingtian, und Fuzhou unter der Leitung des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit.

Gemeinsame Polizeipatrouillen und Zusammenarbeit mit mehreren Ländern
China schloss 2015 eine Reihe bilateraler Abkommen mit Italien über Sicherheitsfragen ab. Zwischen 2016 und 2018 sind gemeinsame Patrouillen von italienischer Polizei und chinesischem Personal dokumentiert. Diese wurden zunächst in Rom und Mailand, später auch in Neapel durchgeführt. Inzwischen sind 11 «Stationen» in Italien bekannt. In einer Wohngegend mit vielen Chinesen in Neapel wurde sogar eine Videoüberwachung installiert. In Rom wurde 2018 die feierliche Eröffnung einer «Station» gemeinsam mit Repräsentanten der italienischen Polizei begangen.

Gemeinsame Patrouillen sind seit 2018 auch aus Belgrad und Zagreb dokumentiert, angeblich «zum Schutz von chinesischen Touristen». Laut einem Bericht der Jamestown Foundation von 2019 gibt es auch eine enge Zusammenarbeit zwischen der Regierung von Südafrika und den dort errichteten «Servicestationen», die laut chinesischen Pressemeldungen «die Beziehungen zu in Südafrika lebenden chinesischen Expats vertieften».

Rückkehr nach China unter Drohungen
Die «Stationen» zielen auf im Ausland lebende Oppositionelle, darunter auch Mitglieder der tibetischen Diaspora, und drohen ihnen etwa mit Massnahmen gegen ihre in China lebenden Verwandten oder eigenen Nachteilen, wenn sie nach China zurückkehren. Es beginne meist mit einem Telefonanruf, um die Betroffenen zumindest zum Schweigen zu bringen. Weiterer Druck wird ausgeübt, indem speziell geschulte und aus China eingereiste Offizielle direkten Kontakt aufnehmen und die Betroffenen zur Rückkehr «überreden». In zwei Fällen, in Madrid und Belgrad, wurden Personen in die «Stationen» vorgeladen. In Madrid wurde in der «Station» eine Chinesin per Videoschaltung von der Polizei in Qingtian angehört [vergl. Tibet-Information vom 9. November 2022; UM]. Ein dritter Fall ist aus Paris bekannt; in allen Fällen kehrten die Betroffenen nach China zurück. Was mit ihnen dort geschah, ist nicht bekannt.

The Guardian, 1. Dezember 2022
CNN, 4. Dezember 2022
Safeguard Defenders, 5. Dezember 2022; voller Bericht: http://safeguarddefenders.com/sites/default/files/pdf/Patrol%20and%20Persuade.pdf

 

9. November 2022
China betreibt weltweit illegale Polizeistationen
Ein Bericht der Gruppe Safeguard Defenders beschreibt 110 Polizeistationen, die offenbar illegal von der chinesischen Regierung in diversen Ländern betrieben werden. Federführend sollen die «Büros für Öffentliche Sicherheit» in den Provinzen Zhejiang and Fuzhou sein. Diese sogenannten «Servicestationen» sind zum Beispiel in Amsterdam, Rotterdam, Lissabon, Toronto (gleich mit 3 «Stationen»), Madrid und Belgrad lokalisiert.

Die Stationen werden von China als «Servicestationen» beschrieben, wo im Ausland lebende chinesische Staatsbürger zum Beispiel ihre Fahrerlaubnis verlängern, Änderungen in ihrem Zivilstand melden oder Gesundheitschecks wegen Corona vornehmen können.

Tatsächlich aber werden durch diese Stationen offenbar Dissidenten und andere Bürgerinnen und Bürger unter Druck gesetzt, ihre Aktivitäten aufzugeben oder sogar nach China zurückzukehren. Ein in den Niederlanden lebender Chinese, der durch China-kritische Posts in Sozialen Medien aufgefallen war, erhielt einen Anruf von der Station in Rotterdam, nach China zurückzukehren, um «dort seine Probleme zu lösen». Er solle auch «an seine [in China lebenden; UM] Eltern denken».

Eine Chinesin in Madrid sollte sich in Qingtian in der Provinz Zhejiang wegen angeblicher Umweltverschmutzung verantworten und dazu nach China zurückkehren. Hierzu wurde sie von der Station in Madrid zu einer «Belehrung» eingeladen. Danach wurde sie per Videoschaltung durch die Polizei in Qingtian angehört. Von der Anhörung in Madrid existiert ein Video, in dem die dortige Station als «»Ausländisches Servicecenter in Madrid» der Polizeistation in Qingtian bezeichnet wird. Die Chinesin kehrte danach nach China zurück. Es ist nicht bekannt, was mit ihr dort weiter geschah.

Eine ähnliche «Belehrung» ist von einem Chinesen in Belgrad bekannt. Auch hier bezeichnete sich diese Station als «ausländische Station der Polizei von Qingtian», und auch dieser Bürger kehrte «freiwillig» nach China zurück.

Nicht selten werden bei Verweigerung der «freiwilligen» Rückkehr Drohungen eingesetzt, zum Beispiel gegen in China lebende Familienmitglieder oder die Verweigerung von Schulerziehung für in China zurückgelassene Kinder. Die im Exil arbeitende «Toronto Association for Democracy in China” berichtet von Anrufen teilweise mitten in der Nacht mit Drohungen wie «deine Familienmitglieder werden keine Arbeit finden, wenn du nicht kooperierst», «die Telefonnummern deiner Eltern werden online veröffentlicht, und sie werden belästigt werden», oder speziell an Uiguren «der Rest deiner Familie wird in Lagern landen».

Inzwischen haben die Regierungen von 14 Ländern Untersuchungen gegen diese «Stationen» eingeleitet, darunter Österreich, Kanada, Chile, Tschechische Republik, Deutschland, Irland, Nigeria, Portugal, Spanien, Schweden, Niederlande, Grossbritannien und die USA.

Zur gleichen Zeit richteten drei Tibet-Organisationen einen Brief an den niederländischen Premierminister Rutte. Sie informierten ihn, dass mehrere in den Niederlanden lebende Personen tibetischer Herkunft Anrufe von unbekannten Personen erhalten hätten. In einigen Fällen bezeichneten sich die Anrufer als Mitarbeiter der chinesischen Botschaft, andere machten keine Angaben. Ein Gespräch mit einschüchternden Stellungnahmen des Anrufers wurde aufgezeichnet und der Polizei übergeben.

Schon am 18. Januar 2022 hatte Safeguard Defenders einen Bericht über 62 Fälle von zwangsweisen «Rückführungen» von chinesischen Bürgerinnen und Bürgern berichtet. Der weitaus grösste Teil der Rückführungen erfolgt durch – nach unserem Rechtsverständnis – illegale Handlungen der chinesischen Regierung im Ausland, in China auch zynisch als «Fuchsjagd» bezeichnet. Gedeckt wird diese Praxis durch einen Artikel im chinesischen «Nationalen Überwachungsgesetz» von 2018, das unter anderem folgende Praktiken zulässt: die Entführung aus Drittstaaten, oder das Locken von Zielpersonen mit falschen Versprechungen oder Erpressung entweder direkt nach China, oder auf Seeschiffe oder internationale Flüge in Drittstaaten, die diese Personen dann bereitwillig nach China ausliefern.

Vor 2 Jahren sorgte ein geheimes Abkommen zwischen der Schweiz und China für Empörung, das Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit die Möglichkeit gab, sich hier bis zu 2 Wochen ohne offiziellen Status aufzuhalten, um Individuen zu interviewen, die aus der Schweiz nach China zurückgeführt werden sollen. Auf allgemeine Verwunderung stiess die Tatsache, dass dieses Abkommen geheim gehalten und nicht einmal dem Nationalrat oder der Aussenpolitischen Kommission zur Kenntnis gebracht wurde. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiteten mit einem Touristenvisum, das ihnen freie Einreise in die Länder des Schengen-Abkommens ermöglichte. In der Schweiz erhielten sie sogar Tagesspesen von Fr. 200.- [vergl. Tibet-Information vom 10. Dezember 2020; UM].

Safeguard Defenders, 15. September 2022 und 7. November 2022
CNN, 27. Oktober 2022
Radio Free Asia, 27. Oktober 2022
International Campaign for Tibet, 1. November 2022
The Guardian, 7. November 2022

Über 200 Verhaftungen nach den Unruhen in Lhasa
Während den Unruhen in Lhasa am 26. Oktober, den schwersten seit dem Aufstand 2008 [vergl. Tibet-Information vom 28. Oktober 2022; UM], sind über 200 Verhaftungen bekannt geworden. Den grössten Teil der Verhafteten stellen nach Berichten aus Lhasa chinesische Wanderarbeiter dar, aber es seien auch zahlreiche Tibeterinnen und Tibeter darunter, die ebenfalls aus anderen Regionen Tibets zur Arbeit nach Lhasa kamen. Ihnen wird offenbar eine führende Rolle in den Protesten zugewiesen.

Der grösste Teil der verhafteten chinesischen Wanderarbeiter ist wieder auf freiem Fuss und durfte zurück nach China reisen, während den tibetischen Verhafteten mitgeteilt wurde, sie würden am 29. Oktober freigelassen. Es sind keine Informationen erhältlich, ob dieses wirklich erfolgte.

Radio Free Asia, 3. November 2022

 

28. Oktober 2022
Massenproteste in Lhasa wegen Covid-Lockdown
Am 26. Oktober kam es in Lhasa an mehreren Orten zu Massenprotesten wegen der rigiden Covid-Massnahmen. Es handelt sich um die grössten öffentlichen Proteste seit dem Aufstand in 2008.

Mehrere Fotos und Videos der Proteste erschienen auf chinesischen sozialen Medienplattformen wie Douyin, wurden zwar rasch durch die Zensur gelöscht, verbreiteten sich aber dennoch auf anderen Plattformen weiter. Die Videos, von denen zumindest die meisten eindeutig Lhasa zugeordnet werden konnten, zeigen am Nachmittag und Abend des 26. Oktober an mehreren Orten in Lhasa hunderte von Personen auf den Strassen. Polizei und Personen in weissen Schutzanzügen versuchen, die Menge aufzuhalten und zurückzudrängen. Auch wurden Strassen durch Fahrzeuge blockiert. Es sind Lautsprecherdurchsagen zu hören, die die Protestierenden auffordern, «Verständnis zu zeigen» und wegzugehen.

Offenbar handelt es sich bei den Protestierenden mehrheitlich um Han-chinesische Arbeitsmigranten, die unter dem rigiden Lockdown in Lhasa leiden. In Sprechchören fordern sie, zurück nach Hause gehen zu dürfen. Auch sind tibetische Parolen zu hören. Obwohl nicht alle Parolen verständlich sind, wird von mehreren Quellen berichtet, dass die Drohung ertönte, man würde «ein Feuer entfachen». Es ist unklar, ob darauf auf Selbstverbrennungen angespielt wird.

Zahlreiche Beiträge in sozialen Medien seit August beklagen, dass sich die Bevölkerung nicht rechtzeitig auf den radikalen und langdauernden Lockdown vorbereiten konnte, die Lebensmittelvorräte zur Neige gingen und medizinische Behandlung fehle [vergl. Tibet-Information vom 26. September 2022; UM]. Mehrere Beiträge berichten von ununterbrochener Isolation über nahezu 80 Tage. Es seien kaum noch Lebensmittel zu erhalten, und die Preise seien enorm gestiegen. Arbeitsmigranten klagen, dass sie während der Isolation keinen Lohn erhielten und daher das Geld ausgehe, um Lebensmittel zu kaufen.

In Lhasa kam es wegen der Zustände zu mindestens 5 Selbstmorden [vergl. Tibet-Information vom 4. Oktober 2022; UM]. Aus der Stadt Ghulja in Ost-Turkestan (chin. Xinjiang) wurden im September 22 Todesfälle wegen unzureichender medizinischer Behandlung und durch Verhungern gemeldet.

Video auf Youtube: https://youtu.be/tf1P00j4JxA
Radio Free Asia, 26. Oktober 2022
BBC, 27. Oktober 2022

 

24. Oktober 2022
Neue Angriffe auf Kulturschaffende: Verhaftungen und Gefängnisstrafen
Wie jetzt bekannt wurde, verurteilte im September ein Gericht im Bezirk Kardze im Osten Tibets, heutige Provinz Sichuan, fünf Männer und eine Frau zu Gefängnisstrafen zwischen 4 und 14 Jahren wegen «Anstacheln zu Separatismus» und «Gefährdung der Staatssicherheit». Bei den Verurteilten handelt es sich um Gangkye Drupa Kyab, einen Schriftsteller und Schullehrer (14 Jahre), Pema Rinchen, Schriftsteller (4 Jahre), die politische Aktivistin Tsering Dolma (8 Jahre), Seynam, Schriftsteller und Umweltaktivist (6 Jahre), und die politischen Aktivisten Gangbu Yudrum (7 Jahre), und Samdup (8 Jahre).

Alle befanden sich schon vor der Verurteilung für ein bis zwei Jahre in Haft, ohne dass sie mit Aussenstehenden Kontakt aufnehmen konnten. Die Verhaftungen und der Strafprozess liefen unter grosser Geheimhaltung. Es ist nicht bekannt ist, in welchem Gesundheitszustand sie sich befinden. Alle Verhafteten hatten nach Informationen von Informanten schon vorher Strafen wegen anderer «Vergehen» erhalten.

Am 13. Oktober verhaftete die Polizei fünf Tibeter, offenbar weil sie mit einem Loblied auf den Dalai Lama an einem Musikwettbewerb auf der in China populären Video-Plattform Kuaishou teilgenommen hatten. Die Verhaftungen erfolgten in der Wohnung des Sängers mit dem Namen Derab in der Präfektur Golog im Nordosten Tibets. Die Namen der anderen Verhaftungen, unter ihnen der Komponist des Liedes, sind nicht bekannt.

Im Lied heisst es unter anderem: «Edler Lama wurde in Tibet geboren. Tugendhafte Taten in fremden Ländern vollbracht. Liebender und mitfühlender Lama. Bete für seine baldige Rückkehr».

Das Life-Streaming des Wettbewerbs geht normalerweise über 24 Stunden; kurz nach dem Lied von Derab wurde der Wettbewerb nach eineinhalb Stunden abgebrochen.

Derab wurde von allen künftigen Musikwettbewerben ausgeschlossen und gezwungen, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der er auf weitere Teilnahmen verzichtet. Bis auf den Komponisten des Liedes sind inzwischen alle wieder auf freiem Fuss.

Organiser (Indien), 17. Oktober 2022
Radio Free Asia, 18. Oktober 2022

Zwangsfernsehen: Tibeter müssen Sendung über Parteitag live verfolgen und dürfen das Haus nicht verlassen
In Lhasa wurden Einwohnerinnen und Einwohner gezwungen, die Fernsehsendungen über den einwöchigen Parteitag der Kommunistischen Partei in voller Länge zu verfolgen, ohne dass sie ihre Wohnungen verlassen durften. Wenige Tage vor Beginn des Parteitages wurden sie von den Behörden instruiert, dass je ein Mitglied pro Familie vorher Lebensmittel und andere nötige Artikel einkaufen darf. Danach wurde strikt kontrolliert, dass niemand mehr aus dem Haus ging.

Das zwangsweise Verfolgen der Sendungen wurde auch aus anderen Regionen Tibets bekannt. In den Klöstern der Präfekturen Ngaba, Kardze und Golog im Norden und Osten Tibets, heute in den Provinzen Sichuan und Qinghai, wurde Mönchen und Nonnen befohlen, die Fernsehsendungen zu verfolgen. In der Präfektur Ngaba sind auch zwei Schulen bekannt, in denen Schülerinnen und Schüler den gesamten Parteitag im Fernsehen ansehen mussten.

Radio Free Asia, 17. Oktober 2022

 

13. Oktober 2022
Chinas «100-Tage-Kampagne zur Verbrechensbekämpfung» wird für politische Zwecke missbraucht
Am 25. Juni lancierte das Ministerium für Staatssicherheit eine «100-Tage-Kampagne», die sich vordringlich gegen Verbrechen an Wehrlosen wie Kindern, Betagten, und Hilfebedürftigen richtete. Ausgelöst wurde die Kampagne scheinbar durch einen Angriff auf 4 Frauen in der Provinz Hebei am 10. Juni, der grosse öffentliche Empörung ausgelöst hatte. Laut einer Analyse von ICT scheint diese Kampagne aber immer mehr politischen Zielen wie Erhaltung der «Stabilität» im Vorfeld des Kongresses der Kommunistischen Partei zu dienen.

Im Namen der «Verbrechensbekämpfung» kam es überall in China, und speziell auch in Xinjiang und Tibet, zu politisch motivierten Verhaftungen. Die Regierung der VR China änderte ihre Wortwahl weg von expliziten Begriffen wie «Dalai Clique», «Separatisten» oder «anti-chinesischen Kräften im Westen» hin zu unverfänglichen Formulierungen wie «entschlossen am Prinzip 'kein Ärger, kein Chaos für die Zentralregierung' festhalten", "streng überwachen und kontrollieren", "Schlüsselbereiche im Auge behalten", "versteckte Probleme rechtzeitig entdecken und umgehend beheben" und "mit eiserner Disziplin für die Umsetzung sorgen". Mit diesen diffusen Formulierungen lassen sich willkürliche Verhaftungen rechtfertigen, ohne den Eindruck zu erwecken, in Freiheitsrechte einzugreifen.

Tibet Times berichtete schon im August von mindestens 13 Verhaftungen in Tibet. Die Betroffenen sollen Bilder des Dalai Lama in ihrer Wohnung oder im Auto gezeigt oder Informationen mit dem Ausland ausgetauscht haben. Weiterhin fanden in Lhasa Versammlungen statt und mahnen aufgehängte Banner zur «digitalen Sicherheit», was im Wesentlichen Warnungen vor dem Senden von Nachrichten an Familienmitglieder oder Geschäftspartner im Ausland bedeutet.

Diese Kampagne erinnert an eine frühere Kampagne «Fege das Schwarze weg und beseitige das Böse» von 2018 bis 2021. Als «bösartige Kraft» wurde 2019 im Rahmen dieser Kampagne der Antikorruptions-Aktivist Anya Sengdra zu 7 Jahren Haft verurteilt.

Auch in Xinjiang liegt der Fokus dieser neuen Kampagne augenscheinlich nicht auf Verbrechen, sondern «illoyalen Uiguren». Der Polizeipräsident der Stadt Hotan erklärte, dass «Diebe» nur am Rande interessierten, vielmehr ziele man auf «illoyale Personen» ab.

Tibet Times, 3. August 2022
International Campaign for Tibet (ICT), 12. Oktober 2022

Rassistische Stellungnahme gegen Tibeter erzwingt Entschuldigung
Am 8. Oktober platzierte eine Chinesin, deren Namen als «Liu» angegeben wird, auf dem Netzwerk WeChat eine Stellungnahme, die die Vernichtung von Tibetern in Lhasa und deren Ersetzung durch Chinesen fordert. Ausgelöst wurde diese wütende Stellungnahme offenbar durch tibetische Kritik an der Gleichgültigkeit der Behörden gegenüber den Betroffenen von den drastischen Null-Covid-Massnahmen in Lhasa. Ihre Stellungnahme gipfelte in der Bemerkung: «Die Regierung kümmert sich nicht? Hey! Alle Tibeter in Lhasa sollten ausgerottet werden! Alle Tibeter sollten ausgerottet werden - und wir Han-Chinesen sollten diesen Ort besetzen!".

Selbst dem Büro für Öffentliche Sicherheit ging das offenbar zu weit. In einer offiziellen Verlautbarung hiess es kurz darauf, dass «am 8. Oktober 2022 in unserer Stadt unangemessene Äusserungen [gepostet wurden], die die nationale Einheit untergruben, [und] auf Plattformen sozialer Netzwerke erneut gepostet [wurden]. Nachdem unser Büro eine Untersuchung eingeleitet hatte, wurde die Herausgeberin der Äusserungen, Liu XX, ermittelt. Derzeit hat unser Büro Ermittlungen durchgeführt und Beweise gesammelt und wird seine rechtliche Verantwortung in Übereinstimmung mit dem Gesetz wahrnehmen.»

Kurz darauf erschien ein Video von «Liu», in dem eine nur verschwommen gezeigte Frau eine Entschuldigung anbietet: «Ich habe in der (WeChat)-Gruppe etwas gepostet, das sich negativ auf die Einheit der Nation auswirkt, und das hatte grosse Auswirkungen auf die Gesellschaft. An dieser Stelle möchte ich mich bei der Regierung und der breiten Öffentlichkeit zutiefst entschuldigen. Ich werde so etwas in Zukunft nicht mehr tun. Es tut mir leid.»

Bemerkenswert ist zweierlei: weder die Behörden noch die angebliche Urheberin bezeichnen die Äusserung als «rassistisch»; es heisst lediglich, sie sei «unangemessen». Und die Entschuldigung erfolgt nicht gegenüber den Betroffenen direkt, sondern gegenüber der «Regierung» und der «breiten Öffentlichkeit».

International Campaign for Tibet (ICT), 11. Oktober 2022
Video auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=xJlE8j7AU94

 

4. Oktober 2022
Selbstmorde wegen inhumaner Bedingungen in Corona-Isolation
Angesichts unhaltbarer Zustände in der von den Behörden in Lhasa verordneten Isolation haben sich laut TCHRD und ICT fünf Menschen das Leben genommen. Beide Organisationen konnten aufgrund von Posts in den sozialen Netzwerken Weibo und WeChat die genauen Orte der Selbstmorde feststellen. Alle fünf Selbstmorde ereigneten sich zwischen dem 23. und 25. September in verschiedenen Quartieren von Lhasa. Mindestens drei Personen kamen durch Sprünge aus ihren Isolations-Unterkünften ums Leben, wie Augenzeugen berichten. Videos auf Weibo zeigen in diesen drei Fällen leblose Körper auf der Strasse, jeweils umringt von Personen in Schutzanzügen, die die Opfer untersuchen. Bildmaterial und detaillierte Information von den anderen beiden Fällen liegen nicht vor, allerdings erscheinen THCRD und ICT die Schilderungen auf Weibo ebenfalls glaubhaft. Kommentare auf Weibo und WeChat, in denen die Bedingungen in Isolation als «Hölle» bezeichnet werden, bezeichnen die Isolationsmassnahmen als Auslöser der Selbstmorde.

Seit August sind in den grössten Städten wie Lhasa und Shigatse strenge und willkürlich anmutende Isolationsmassnahmen in Kraft. Betroffene berichten in sozialen Medien über die unterschiedslose Isolation von negativ und positiv Getesteten, die teils über Stunden zusammen in Bussen vor den Zentren ausharren müssen und ebenso unterschiedslos in teils nur im Rohbau fertigen Häusern zusammengesperrt werden. Hier stecken sich mutmasslich noch Gesunde an; medizinische Hilfe für akut Erkrankte sei oft nicht vorhanden. Eine Schwangere habe eine Fehlgeburt erlitten. Radio Free Asia berichtet von drei Todesfällen, unter ihnen ein tibetischer Arzt, aufgrund fehlender medizinischer Betreuung. Die Behörden verhielten sich gleichgültig, die sanitären Zustände in den Unterkünften seien prekär und das Essen bleibe oft aus oder sei verdorben. Manche würden zahlreichen Covid-Tests unterzogen (ein Betroffener berichtete von 24 Test, von denen nur der letzte positiv gewesen sei), andere klagten über ausgefalle Tests, weil kein medizinisches Personal erschien [vergl. Tibet-Informationen vom 29. August und 26. September 2022; UM].

Zwar drohen die Behörden mit Strafen bei Verbreitung derartiger Nachrichten auf Weibo und die Zensurbehörde löscht Beiträge schnell, konnte aber die Flut von Posts in den sozialen Netzwerken nicht rechtzeitig bewältigen. Nach einer ungewöhnlichen offen abgegebenen Entschuldigung des Vize-Bürgermeisters von Lhasa seien die Strafen dann sofort durchgesetzt worden; alle, die noch weiter Posts verfassten, seien inzwischen in Haft.

Radio Free Asia, 16. September 2022
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD), 28. September 2022
International Campaign for Tibet (ICT), 29. September 2022

Zwei Tote nach Misshandlung in Haft
Die Central Tibetan Administration berichtet über 2 Todesfälle, beide aufgrund von Misshandlung in Haft.

Chukdhar, 55 Jahre alt, wurde am 24. August mit vier anderen Tibetern verhaftet. Anlass war angeblich die Sangsol-Zeremonie, die sie in der buddhistischen Akademie Larung Gar abhielten, sowie das Aufschichten von Mani-Steinen. Die fünf Tibeter waren in der Region für ihre Grosszügigkeit und das Abhalten von Gebetszeremonien als die «Edlen Fünf» bekannt. Am 25. August wurde den Angehörigen verweigert, die Verhafteten zu besuchen und Essen zu bringen. Einen Tag später, am 26. August, wurde die Famile von Chukdhar über seinen «plötzlichen Tod» informiert. Das sei nicht glaubhaft, zumal er bis zwei Tage vorher bei perfekter Gesundheit gewesen sei. Die Leiche durfte erst abgeholt werden, nachdem die Angehörigen eine Erklärung unterzeichneten, dass die Haft nichts mit dem Todesfall zu tun habe. Auch wurde ihnen eine grosszügige finanzielle Entschädigung angeboten, aber bisher noch nicht ausgezahlt. Chukdhar sei der einzige Ernährer seiner beiden Eltern, seiner Frau und ihrer Kinder gewesen.

Ngodup Tsering, dessen Alter nicht bekannt ist, wurde am Morgen des 27. September in Dartsedo im Osten Tibets, heutige Provinz Sichuan, verhaftet. Er war gerade von einer Hilfsmission zurückgekehrt, wo er Essen in ein Altersheim gebracht hatte. Die Polizei habe mitgeteilt, dass die Behörden bestens mit Essen und anderen Dingen für die Alten sorgten und ein «Aussenstehender» dort nichts zu suchen habe. Laut Tibet Times sei er wegen «unangemessenem Gesichtsausdruck» in der Polizeistation schwer misshandelt wurde, bis er nicht mehr stehen konnte. Am nächsten Morgen sei er verstorben. Es ist nicht bekannt, ob sein Leichnam den Angehörigen übergeben wurde. Ngodup Tsering war Taxifahrer und bestritt damit den Lebensunterhalt seiner Mutter, Frau und zwei Kinder.

Tibet Times, 28. September 2022
Central Tibetan Administration, 30. September 2022

 

26. September 2022
Corona-Massnahmen führen zu chaotischen Zuständen in Tibet
Nachdem sich die Behörden rühmten, dass Tibet für 920 Tage ohne Corona-Infektion blieb, traten Anfang August die ersten Fälle auf. Darauf reagierten die Behörden mit drastischen Massnahmen wie Ausgangssperren, Reiseverboten und «Desinfektionsmassnahmen». Auch wurden mehrere Funktionäre wegen angeblicher Unfähigkeit ihrer Ämter enthoben [vergl. Tibet-Information vom 26. August 2022; UM].

Drohungen und Sanktionen gegen «Verbreitung von Gerüchten»
Nun, mehr 6 Wochen später, liegen zahlreiche, teilweise dramatische Schilderungen und Beschwerden von Betroffenen über die Situation im sozialen Netzwerk Weibo vor. Dieses geschah trotz einer deutlichen Warnung der Internet-Administration der «Autonomen Region Tibet» (TAR). Am 9. August warnte das Amt ausdrücklich, «Gerüchte» über die Pandemie zu streuen, denen man «mit Härte» begegnen müsse. Einzelne User von Weibo wurden laut Regierungsmitteilungen offenbar schon bestraft. Chinesische Medien warnten Betroffene davor, «auf ihre Daumen [zum Schreiben] aufzupassen, damit sie nicht in Schwierigkeiten geraten». Eine Tibeterin zeigte Fotos von sich mit Blutergüssen, weil sie verprügelt wurde, nachdem sie sich über die Zustände in Isolation beschwerte.

Schilderungen der Missstände
Die Weibo-Beiträge üben trotz Drohungen teilweise heftige Kritik an den Behörden und bezichtigten sie der Gleichgültigkeit und Inkompetenz.

Viele Tibeterinnen und Tibeter klagen, dass sie in Isolation ohne ausreichende Ernährung und medizinische Hilfe blieben. Oft gebe es nur eine Mahlzeit am Tag. Das Spital in Lhasa sei voll, und Infizierte würden stattdessen in ein Isolationszentrum gebracht, wo sie erst 3 Tage später medizinisch betreut wurden. Viele beschweren sich, weil Anfragen nach medizinischer Hilfe ignoriert wurden. Eine Schwangere habe in Isolation eine Fehlgeburt erlitten, weil ihr medizinische Hilfe verweigert wurde. Ein User beklagte sich, dass er nun 34 Tage in Isolation sei und sich 24 Tests unterziehen musste, und nur der letzte sei positiv ausgefallen. Umgekehrt mussten Personen mit Symptomen mehrere Tage warten, ehe sie überhaupt getestet wurden.

Behörden sollen ganze Familiengemeinschaften auffordern, in Isolation zu gehen, gleichgültig ob sie positiv oder negativ getestet sind. Die Aufforderung enthielt auch eine versteckte Warnung, dass diejenigen, die trotz negativem Test nicht freiwillig in Isolation gehen, bei einem späteren positiven Test in schlechtere Unterkünfte müssten. Auf der Fahrt würden positiv und negativ Getestete ohne Abstandsregelung im gleichen Bus zu den Unterkünften gefahren und dort auch in Betten nebeneinander untergebracht. Ein User schilderte, dass die Betroffenen im Bus nach Ankunft im Isolationszentrum noch 5 Stunden warten mussten, ehe ihnen eine Unterkunft zugewiesen wurde. Mehrere berichteten, dass sie auch nach Ankunft zunächst negativ getestet wurden, sich aber später ansteckten. Die Unterkünfte, in denen Isolierte untergebracht werden, sind teilweise nur Rohbauten. Fotos auf Weibo zeigen Räume mit nackten Wänden, in denen in engem Abstand Reihen von Betten stehen. Ein Foto zeigt eine völlig verschmutze und überflutete Toilette. Auf Weibo gibt mehrere Berichte und Fotos von vergammelten Nahrungsmitteln, die geliefert wurden. Es kursieren Bezeichnungen wie «Schweineställe» für diese Unterkünfte.

Nahrungsmittel werden im Lockdown knapp
Auch Wanderarbeiter und -arbeiterinnen sowie freiwillige Helfer und Helferinnen beschwerten sich über ihre Situation. Zwar nicht in Isolation, könnten sie wegen des Lockdowns und der Reisebeschränkungen kaum noch Nahrungsmittel oder Benzin einkaufen. Angesichts des akuten Mangels seien die Preise für die wenigen Güter so stark gestiegen, dass ihnen demnächst das Geld ausginge.

Entschuldigungen und Ablenkung
In einer ungewöhnlichen Wendung gab der Vizebürgermeister von Lhasa Missstände zu und entschuldigte sich für die Umsetzung des Lockdowns: «Im Namen der Stadtregierung möchte ich mich bei den Menschen aller ethnischen Gruppen zutiefst entschuldigen.» Die Beschwerden hätten die Unzulänglichkeiten und Schwächen der Stadtverwaltung aufgezeigt.

Nachdem ähnliche Schilderungen und Beschwerden auch aus Xinjiang auf Weibo begannen, griffen die Zensoren zu einem Ablenkungsmanöver und überschwemmten die Plattform zunächst mit Tourismustipps, dann tagelangen Beiträgen zum Tod von Elisabeth II. Sarkastisch bemerkte der chinesische Journalist Chu Yang, der Tod der Queen habe Weibo gerettet.

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy, 18. September 2022
Nau.ch, 20. September 2022

 

15. September 2022
China sammelt systematisch DNA-Proben in Tibet
Human Rights Watch und Citizen Lab berichten, dass die Behörden systematisch DNA-Proben in allen Regionen Tibets sammeln. Die Proben werden offenbar in allen Altersklassen gesammelt, beginnend im Kindergartenalter ab 5 Jahren. Es gibt keine Hinweise, dass die Betroffenen über die Verwendung aufgeklärt werden oder eine reale Möglichkeit hätten, die Probenentnahme abzulehnen. Offiziell wird die Sammlung damit erklärt, dass Verbrechen aufgeklärt, vermisste Personen gefunden werden und die «soziale Stabilität» gestärkt wird.

Das systematische Sammeln von DNA-Proben in China begann 2019 im Rahmen einer Kampagne der «drei Grossen», nämlich «Inspektion, Untersuchung und Vermittlung», um die lokale Polizeiarbeit zu unterstützen. Ein Jahr später wurde eine nationale DNA-Datenbank aufgesetzt, die Daten von mindestens 40 Millionen Bürgerinnen und Bürgern umfasst. Zunächst schien die Sammlung von Proben auf Personen mit kriminellem Hintergrund beschränkt, wurde später aber mit der Begründung es würde der «Verbrechensaufklärung» dienen, auf die generelle Öffentlichkeit ausgedehnt.

Die Sammlung in Tibet begann Citizen Lab zufolge aber offenbar schon vorher, nämlich im Jahr 2016 unter dem damaligen Parteisekretär Chen Quanguo, der später im gleichen Amt in Xinjiang den Kontroll- und Unterdrückungsapparat perfektionierte.

Basierend auf einer systematischen Auswertung von 100 öffentlich zugänglichen Quellen fand Citizen Lab 44 Berichte über DNA-Probensammlungen in 14 Regionen der sogenannten «Autonomen Region Tibet» (TAR), die von der Polizei durchgeführt wurden. Es gibt auch einzelne Hinweise auf Probenentnahmen ausserhalb der TAR. Nach Auswertung aller Quellen schliesst Citizen Lab auf insgesamt zwischen 900'000 und 1.2 Millionen Proben, die entnommen wurden, was etwa einem Viertel bis einem Drittel der gesamten Bevölkerung Tibets entspricht.

Von der US-amerikanischen Firma Thermo Fisher orderten die Behörden gemäss öffentlich zugänglichen Dokumenten Probenbehälter im Wert von US-$ 1.6 Millionen. Die Polizei in Lhasa rüstete ein bereits bestehendes Analysegerät, ebenfalls von Thermo Fisher, für den Preis von US-$ 137'000 auf.

In einem Polizeidokument wurde gefordert, «kein Dorf aus einer Ortschaft, kein Haushalt aus einem Dorf, und keine einzige Person» darf ausgelassen werden. Ein anderes Polizeidokument beschrieb die Probensammlung in einem Kindergarten, ohne Hinweise darauf, ob die Eltern in irgendeiner Weise involviert waren. Ein anderer Polizeibericht über die Probensammlung in einer Schule rühmte, dass die Durchführenden «prompt alle Zweifel und Bedenken der Massen zerstreut und Unterstützung und Verständnis von den Anwesenden erhalten» hätten.

Human Rights Watch, 13.September 2022
Citizen Lab, 13. September 2022 – ausführlicher Bericht: https://citizenlab.ca/2022/09/mass-dna-collection-in-the-tibet-autonomous-region/

Phayul, 14. September 2022

 

29. August 2022
Covid-Massnahmen mit drastischen Folgen auch in Tibet
Die teilweise drastischen Massnahmen zur Kontrolle der Covid-Infektionen prägen auch in Tibet das Leben. Mitte August waren die Infektionszahlen in der sogenannten „Autonomen Region Tibet“ (TAR) auf 3‘400 gestiegen.

Als Zentrum des Ausbruches wurde die zweitgrösste Stadt, Shigatse, identifiziert. Ab 8. August wurde eine dreitägige Ausgangssperre verhängt. Tausende von Touristen sassen dort fest. Die Behörden verlangen zwei negative Covid-Tests im Abstand von drei Tagen, dazu noch einen negativen Test direkt vor der Ausreise von Tibet am Flughafen oder Bahnhof. In der chinesischen Stadt Shijiazhuang wurden am 17. August 12 Reisende im Zug von Lhasa bei einer „Ankunftsinspektion“ positiv getestet, obwohl sie bei Abfahrt in Lhasa ein negatives Resultat vorwiesen.

Ein Tourist berichtete dem chinesischen Nachrichtenportal Caixin unter einem Pseudonym über die Zustände in Shigatse. Er habe für den 11. August für seine Ausreise einen Covid-Test gebucht, der aber ausfiel, weil kein medizinisches Personal anwesend war. Auch träfen häufig die Resultate, die eigentlich innerhalb drei Tagen verfügbar sein sollten, nur verspätet ein. Dadurch verpassten viele Reisende ihre umgebuchten Flüge. Ein nicht namentlich genannter Gesundheitsarbeiter berichtete Caxin, dass der PCR-Test in „höchst primitiver Weise“ durchgeführt werde und es überall an geschultem Personal mangele. Vom 15. bis 18. August fand in Lhasa eine „Desinfektionsmassnahme“ statt, und es galt bis 21. August ein partieller Lockdown: öffentliche Zusammenkünfte waren untersagt, und niemand durfte ausser in Notfällen das Haus verlassen.

In Shigatse wurden am 12. August fünf Funktionäre wegen „mangelhafter Implementierung der Präventions- und Kontrollmassnahmen“ entlassen, und am 17. August mussten aus gleichem Grund drei Funktionäre in Lhasa ihren Platz räumen. Informanten von ICT glauben aber, dass die Entlassenen schon bald wieder in offizielle Ämter zurückkehren; zu stark seien ihre „Beziehungen“ zu Staat und Partei, als dass man sie fallen liesse. Vielmehr seien die Entlassungen und die Bekanntmachungen symbolträchtig erfolgt, um soziale Unruhen zu vermeiden.

Einzelne Einträge in sozialen Medien geben chinesischen Reisegruppen die Schuld, das Virus erst nach Tibet eingeschleppt zu haben. China hatte sich in diesem Jahr bemüht, nach zwei Jahren Lockdown den Inlands-Tourismus nach Tibet anzukurbeln.

Auch in anderen Regionen Tibets ausserhalb der TAR werden Covid-Fälle gemeldet, ohne dass Details bekannt sind. In einer IKEA-Filiale in Shanghai kam es zu chaotischen Szenen, als bekannt wurde, dass ein Kunde längeren Kontakt zu einem Jungen hatte, der nach Rückkehr aus Lhasa positiv getestet worden war. Als sich die Behörden anschickten, die Filiale abzuriegeln, um alle Besucher unter Quarantäne zu stellen, ergriffen Hunderte in Panik die Flucht.

International Campaign for Tibet, 12. August 2022
Der Stern, 16. August 2022
Caixin, 18. August 2022

Nach 20 Jahren erlauben die Behörden wieder ein Festival in Nyagchuka
Ohne Vorankündigung oder Begründung wurde in Nyagchuka in der Präfektur Kardze im Osten Tibets, heute in der Provinz Sichuan, ein früher sehr populäres Festival wieder genehmigt. Der Anlass mit Pferderennen und Picknicks fand zuletzt 2002 statt.

Seit der Verhaftung von Tulku Tenzin Delek, einem vor allem in dieser Region hoch angesehenen Gelehrten, durfte das Festival nicht stattfinden. Schon vor der chinesischen Invasion war das Festival sehr populär, aber mit Tenzin Deleks Anwesenheit wurde es noch grösser und auch um religiöse Unterweisungen erweitert. Solange Tenzin Delek anwesend war, durften bei den Picknicks keine alkoholischen Getränke konsumiert oder geraucht werden. Diese Restriktionen sind jetzt nicht mehr in Kraft. Kurz vor dem Beginn des Festivals wurde der Rand des Geländes mit chinesischen Flaggen umgeben.

Tulku Tenzin Delek wurde wegen unterstellter Verwicklung in ein Bombenattentat im April 2002 in der Provinzhauptstadt von Sichuan, Chengdu, verhaftet. In einem Strafprozess, dessen Unabhängigkeit international angezweifelt wurde, wurden er sowie sein Assistent Lobsang Dondrub zum Tode verurteilt. Letzterer wurde umgehend nach dem Urteil hingerichtet, während die Strafe für Tenzin Delek zu 22 Jahren Haft umgewandelt wurde. Er starb am 12. Juli 2015 unter nicht geklärten Umständen im Gefängnis.

Nach seinem Tod [vergl. Tibet-Information vom 24. Juli 2015; UM] hatten Angehörige von Tenzin Delek– wie auch zahlreiche NGOs im Ausland – eine unabhängige Untersuchung der Umstände seines Todes in Haft verlangt. Zwei Schwestern waren kurz zu seinem Sterbebett vorgelassen worden, wo er noch in Anstaltskleidung in seiner Zelle lag. Verfärbungen an Fingern und Lippen hatten Gerüchte um eine Vergiftung aufkommen lassen. Eine Todesbescheinigung mit Angabe der Todesursache wurde nicht ausgestellt. Nach Abgabe der Petition für eine Untersuchung wurden eine Schwester und ihre Tochter am 22. Juli 2015 in Haft genommen. Näheres über die Vorwürfe gegen sie sind nicht bekannt.

Tenzin Delek wurde noch im Hochsicherheitsgefängnis kremiert. Angehörige und Freunde wollten die Asche in sein Heimatkloster bringen, aber die Urne wurde vor Beginn der Bestattungszeremonie von der Polizei konfisziert. Nach Angaben eines Verwandten in Indien drangen Polizisten nachts in die Unterkunft ein, in der die Gruppe auf halbem Wege zum Heimatkloster übernachtete und nahmen die Urne mit. Sie drohten sogar, die Asche in den benachbarten Fluss zu werfen.

Radio Free Asia, 3. August 2022

 

4. August 2022
Sicherheitsbehörden bieten Belohnung für Denunziation
Das Büro für Öffentliche Sicherheit in Lhasa hat vor dem Geburtstag des Dalai Lama am 6. Juli Belohnungen von umgerechnet bis zu Fr. 45'000 für Denunziation ausgesetzt. Die Bekanntmachung vom 4. Juli fordert die Einwohner von Lhasa auf, Aktivitäten gegen «die Sicherheit des Staates» zu melden, um einen «eisernen Wall der Stabilität» zu errichten.

Insgesamt sind 12 verschiedene Kategorien von «illegalen Aktivitäten und Verbrechen» aufgeführt. Darunter sind die schon lange aus früheren Behördenmitteilungen bekannten “Aktivitäten” benannt, wie das Verbreiten von «Gerüchten», die die Staatsgewalt schwächen oder das sozialistische System diffamieren, sowie die Verbreitung von «illegalen» Nachrichten oder «Staatsgeheimnissen» in das Ausland, die Zusammenarbeit mit «illegalen» Organisationen im Ausland, und der Besitz von «illegalen» Publikationen. Die Bestimmungen sind mit Absicht sehr allgemein gehalten, was ein grosses Mass an Willkür in der Durchsetzung zulässt. Selbst das Lagern, der Verkauf oder die sonstige Weitergabe von Benzin oder Diesel, die gegen behördliche Bestimmungen verstossen, oder das «Ausnutzen des Einflusses von Familienclans in Dörfern» zur Störung der Stabilität auf dem Land werden als Anhaltspunkte aufgeführt.

Belohnungen für Denunziation sind nicht neu. Bereits 2018 hat das Büro für Öffentliche Sicherheit im Bezirk Nagchu Geldprämien für Informanten ausgelobt, die Aktivitäten sogenannter „krimineller Vereinigungen“ übermitteln. Diese Mitteilung folgte auf eine ähnliche Order von Februar 2018, die die Bevölkerung aufruft, der Polizei alle Personen zu melden, die den Dalai Lama und seine „üblen Gefolgsleute“ unterstützen. Im Februar 2019 boten die Behörden in der «Autonomen Region Tibet» hohe Belohnungen für diejenigen, die unerwünschte Inhalte im Internet zur Anzeige bringen.

International Campaign for Tibet, 8. Juli 2022

China baut Strassen an umstrittener Grenze zwischen Tibet und Indien aus
Wie die South China Morning Post berichtet, will China in den nächsten 13 Jahren massiv in den Strassenbau entlang der umstrittenen Grenze zwischen Tibet und Indien investieren. Ein kürzlich verabschiedetes Regierungsprogramm kündigt 345 Projekte für den Ausbau von Strassen mit einem Umfang von insgesamt 461‘000 km an. Darunter befindet sich der Ausbau der Nationalstrasse G695, die sich vom Bezirk Lhunze in Tibet bis Mazha in Xinjiang erstreckt. Diese Strasse verläuft auch durch Territorien, die zwischen China und Indien umstritten sind und unmittelbar nördlich der Waffenstillstandslinie zwischen beiden Ländern liegen.

Entlang der Strasse im Bezirk Kamba befindet sich ein wichtiges chinesisches Militärlager. In den letzten 2 Jahren hat China die Truppenkapazität im Abstand von 100 km zur Waffenstillstandslinie massiv von 20‘000 auf 120‘000 erhöht. Nach Ansicht des China-Experten an der Universität New Delhi, Prof. Srikanth Kondapalli, weisen diese Veränderungen auch auf Pläne zur weitergehenden „Sinisierung“ Tibets nach dem Tode des 14. Dalai Lama hin. Ein anderer Aspekt des Ausbauprogramms dürfte die Ankurbelung der derzeit lahmenden Wirtschaft in China sein.

South China Morning Post, 20. Juli 2022

Hikvision präsentiert hochentwickelte Technologie für Verhöre
Die chinesische Firma Hikvision, die bisher als Produzent für Video-Überwachungsanlagen bekannt ist, präsentiert eine neue Technologie für Verhöre. Das berichtet die nach eigenen Angaben unabhängige und strikt ethisch arbeitende Organisation IPVM, die sich auf Informationen über Video-Überwachungen spezialisiert.

Hikvision bietet ein integriertes System zur Überwachung von Verhören an, das mit dem sogenannten «Tiger-Sitz», der Verhörte in schmerzhaften Positionen fixiert, kombinierbar ist. Das System fertigt während der Verhöre eine Video-Aufnahme mit Mikrofon und Kameras aus mehreren Positionen an und überwacht gleichzeitig Vitalzeichen wie Pulsrate, Blutdruck und Sauerstoff-Gehalt des Blutes der Verhörten. Dazu kann es dank – laut Werbematerial – «intelligenter Verhaltensanalyse» Alarm schlagen bei «kraftvollen Bewegungen» der Verhörten.

Das System ist mit einer Konsole und einer Festplatte zur Aufzeichnung ausgerüstet. Video-Aufnahmen werden automatisch auf eine DVD gebrannt, und das Verhörprotokoll kann sofort nach Ende des Verhörs zur Unterzeichnung durch die betroffenen Gefangenen ausgedruckt werden.

Das System ist nur innerhalb der Volksrepublik China erhältlich und kostet dort zwischen $2'800 und $3'800.

Detaillierte Informationen mit Bildern und Werbe-Videos sind unter Hikvision Interrogation Solution For PRC Police (ipvm.com) zu sehen.

IPVM, 19. Juli 2022

 

30. Juni 2022
Zwei tibetische Schriftsteller erhalten mehrjährige Haftstrafen
Im Juni wurden gleich zwei tibetische Schriftsteller wegen «Anstachelung zum Separatismus» zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Dieser diffuse Tatbestand wird meist für Gerichtsurteile verwendet, wenn sich die Betroffenen in irgendeiner Weise kritisch zur Situation in Tibet äussern. Allein im vergangenen Jahr wurden 10 Schriftsteller wegen dieses Tatbestandes verhaftet.

Thupten Lodoe (Pseudonym: Sabuchey), 34 Jahre alt, erhielt eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren. Im Oktober letzten Jahres wurde er verhaftet und bis zur Urteilsverkündung an einem unbekannten Ort festgehalten. Seine Angehörigen wurden massiv unter Druck gesetzt, sich nicht zu seiner Verhaftung und dem Urteil zu äussern. Sabuchey beherrscht neben seiner tibetischen Muttersprache auch die chinesische Sprache fliessend und äusserte sich in beiden Sprachen auf Internet-Plattformen und Webseiten zu sozio-ökonomischen Themen und zur Situation in Tibet. Nach seinem Studium in China kehrte er nach Tibet zurück und arbeitete mehrere Jahre als Lehrer in einer Mittelschule im Bezirk Sershul. Er gilt als einer der profiliertesten Schriftsteller in seiner Generation. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn mehrmals vorher wegen seiner Meinungsäusserungen verwarnt. Als er verhaftet wurde, konfiszierten die Behörden auch seinen Computer, um «Beweismaterial» sicherzustellen.

Rongwo Gendun Lhundup (Pseudonym: Lhamkok), 48 Jahre alt, wurde im November 2020 im Kloster Rongwo in der heutigen chinesischen Provinz Qinghai im Norden Tibets verhaftet. Seitdem wird er an einem unbekannten Ort festgehalten. Im Dezember 2021 wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt, zusätzlich zum Verlust seiner politischen Rechte für zwei Jahre. Seine Schriften befassen sich hauptsächlich mit der Situation der tibetischen Sprache und Kultur. Er bereiste viele Regionen in Tibet und administrierte die im tibetischen Sprachraum sehr bekannte Webseite «Tsenpo». Sein Gedichtband mit dem Titel «Der im Jahr des Schweins geborene» galt als Referenz an den Dalai Lama, der ebenfalls im Jahr des Schweins 1935 geboren wurde. Vor seiner Verhaftung war er mehrfach wegen seiner Kritik an der «Sinisierung Tibets» verhört worden. Sein letzter Gedichtband «Khorwa» über den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt erschien unmittelbar vor seiner Verhaftung.

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD), 18. / 19. Juni 2022

Umsiedlung von 130’000 Tibetern geplant
Die Regierung der “Autonomen Region Tibet“ kündigte am 27. Juni an, dass in den nächsten 8 Jahren insgesamt 130‘000 Tibeter umgesiedelt werden sollen, die in 100 Ortschaften leben. Die von der Umsiedlung Betroffenen leben in der Region Nagqu nördlich von Lhasa in Höhen von über 4'000 m. Allein 26‘300 Personen [nach anderen Quellen 17'555 Tibeter] sollen bis 11. August 2022 in die niedriger gelegene Stadt Lhokha südöstlich von Lhasa umziehen. Teile dieses Plans seien bereits im Gange., und die ersten Familien sollen ihre neuen Unterkünfte zum 15. Juli beziehen. Die Ankündigung erfolgte durch den Leiter der Verwaltung für Forstwirtschaft und Grasland, Wu Wei. Daraus ist zu schliessen, dass es sich um einen weiteren Schritt im zwangsweisen Sesshaftmachen von Nomaden handelt.

Diese Massnahme „widerspiegelt einen auf den Menschen ausgerichteten Entwicklungsgedanken, der sowohl den Schutz der Umwelt als auch die Forderung der Menschen nach einem besseren Leben berücksichtigt“, so Wu Wei.

Ausserhalb Chinas wurde diese Umsiedlungspolitik in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert. Beobachter wiesen darauf hin, dass die Umsiedlungen meist gegen den Willen der Betroffenen erfolgen, ohne dass sie Einsprachemöglichkeiten haben, dass Versprechen auf finanzielle Kompensationen oder berufliche Umschulungsangebote oft nicht eingehalten wurden, und dass Betroffene ohne Perspektive oder Arbeit in der neuen Umgebung in staatliche Abhängigkeit gerieten.

Asian News International (ANI), 27. Juni 2022
Tibetan Review, 28. Juni 2022

 

20. Juni 2022
Tibetische Kindergartenkinder werden in Internat-System gezwungen
Ein Bericht von Dr. Gyal Lo, veröffentlicht durch das Tibet Action Institute (https://tibetaction.net/2022/05/24/eyewitness-confirms-mandatory-boarding-preschools-operating-across-tibet/) enthüllt Details eines Systems, das tibetische Kinder im Kindergartenalter in ein Internats-System zwingt. Ein früherer Bericht vom Dezember 2021 hatte bereits gezeigt, dass etwa 800’000 tibetische Kinder im Alter von 6, in Einzelfällen ab 4 Jahren, und bis zum Alter von 18 Jahren in Internaten leben müssen. Das sind 78 % der tibetischen Schülerinnen und Schüler [vergl. Tibet-Information vom 16. Dezember 2021; UM].

Neu ist nach Recherchen, die Gyal Lo vor seiner Flucht nach Kanada im letzten Jahr in Tibet durchführte, die Betroffenheit von kleinen Kindern im Alter von 4 bis 6 Jahren. In etwa 50 Internaten in allen Regionen Tibets sollen wenigstens 100'000 der Kinder interniert sein. Offizielle Angaben über diese Institutionen gibt es nicht.

Die Kinder verbringen 5 Tage pro Woche in diesen Internaten und dürfen über das Wochenende zu ihren Eltern heimreisen. Während der Zeit des Unterrichts werden die Kinder in chinesischer Sprache unterrichtet und offenbar systematisch zur Annahme einer chinesischen Identität indoktriniert. Der Bericht zeigt dafür mehrere Beispiele.

In einer Unterrichtseinheit werden die Kinder angehalten, ihre Augen zu schliessen, sich ein chinesisches Kulturobjekt vorzustellen, und wie sie es gebrauchen würden. In Aufführungen werden die Kinder in chinesische Armeeuniformen gekleidet und sollen Szenen aus dem Bürgerkrieg im letzten Jahrhundert darstellen. In Lehrbüchern sind Bilder von radikalisierten japanischen Soldaten mit Schwertern und Bajonetten zu sehen, die chinesische Zivilisten misshandeln, und wie die Rote Armee auf die Japaner feuert.

Der Unterricht führt nach Angaben von Eltern dazu, dass sich viele Kinder bei Wochenendbesuchen im Elternhaus zurückziehen und «wie Gäste» verhalten. Schon nach drei Monaten im Internat begännen sie, miteinander in chinesischer Sprache zu reden. Im Internat wären die Kinder anfangs nicht fähig gewesen, ihre Grundbedürfnisse in chinesischer Sprache auszudrücken, so dass Tibeterinnen eingestellt werden mussten, die ihnen beim Zähneputzen und Waschen helfen sollten. Später wurde diese Praxis wieder eingestellt, weil sich das chinesische Lehrpersonal darüber beschwerte, dass die Tibeterinnen mit den Kindern in tibetischer Sprache kommunizieren. In manchen dieser Internate waren noch Bilder von historischen tibetischen Figuren zu sehen. Die Behörden hätten diese Schulen gezwungen, die Bilder abzuhängen und gegen Bilder von kommunistischen Führern auszutauschen.

Ein Augenzeuge berichtete Gyal Lo, dass einige tibetische Eltern über weite Distanzen in die Nähe dieser Internate fahren und dort während der Woche im Auto übernachten, um ihren Kindern nahe zu sein.

Gyal Lo ist in Amdo im Osten Tibets geboren und absolvierte seine universitäre Ausbildung im Fachbereich für Kultur und Sprache an der Hochschule für Nationalitäten in Lanzhou. Dort lehrte er auch als Assistent ab 1985 für 10 Jahre. Später promovierte er in Erziehungs-Soziologie an der Universität Toronto. Nach seiner Rückkehr nach China lehrte er als Professor in Erziehungswissenschaften an der Universität von Yunnan. Seit seiner Flucht im letzten Jahr lebt er in Toronto.

Tibet Action Institute, 24. Mai 2022

Behörden behindern private Erdbebenhilfe durch lokale Bevölkerung
Behörden in der Stadt Barkham, in der Präfektur Ngaba im Nordosten Tibets, haben Mönchen und Laienpersonen ihre spontane Hilfsaktion nach einem Erdbeben untersagt, obwohl erst 3 Tage später staatliche Hilfe vor Ort war.

Die Region um Barkham war am 10. Juni von einem Beben der Magnitude 6.0 erschüttert worden. Vor allem Mönche, aber auch die übrige Bevölkerung, leisteten sofortige Hilfe mit Nahrungsmitteln, Kleidern und Zelten für die etwa 25'000 betroffenen Personen, deren Häuser unbewohnbar wurden. Erst nach 3 Tagen kam ein chinesisches Rettungsteam dort an. Alle lokalen Helfenden wurden gleich nach der Ankunft angewiesen, den Ort «zu ihrer eigenen Sicherheit» zu verlassen.

Jetzt sind sämtliche Kommunikationsleitungen in die betroffene Region gesperrt. Der lokalen Bevölkerung wurde es untersagt, Bilder von den Zerstörungen oder Berichte darüber zu versenden. Über Opfer ist nichts bekannt; laut offiziellen staatlichen Medien wurde lediglich eine Person durch das Beben verletzt.

Derartiges Verhalten der Behörden ist nicht neu. Nach dem verheerenden Erdbeben im Bezirk Yushu in der Provinz Qinghai im Norden Tibets von April 2010 gab es massive Beschwerden der lokalen Bevölkerung über die Behinderung der Rettungsaktionen von Mönchen, die teils mit blossen Händen nach Opfern gruben. Die Mönche und tibetische Geschäftsleute mit Spenden wurden weggewiesen. Kurz darauf erschienen Kamerateams des staatlichen Fernsehens und filmten chinesische Armeeangehörige, die aber wegen der Höhenkrankheit und des winterlichen Wetters kaum einsatzfähig waren. Wegen Verständigungsproblemen mussten hastig Übersetzer herbeigeholt werden. Rettungsarbeiten hätten sich lange auf Wohnsitze der chinesischen Elite konzentriert.

Die staatliche Propagandabehörde wies damals die Medien an: „Sprechen Sie über das Erdbeben in ‚wissenschaftlichen Begriffen’; üben Sie keine Kritik an dem Erdbeben-Frühwarnungsinstitut; geben Sie den Bemühungen der buddhistischen Mönche bei der Katastrophenhilfe nicht zuviel Gewicht; behandeln Sie die von dem staatlichen Fernsehsender CCTV organisierten Spendenaufrufe in aller Ausführlichkeit!“ Ausserdem erinnerte das Informationsbüro des Staatsrates, das für die Überwachung des Internets zuständig ist, die hauptsächlichen Websites daran, dass sie nicht einfach berichten können, was ihnen beliebt [vergl. dazu Tibet-Informationen vom 19., 23., 30. April und 4. Mai 2010; UM].

Radio Free Asia, 15. Juni 2022

 

10. Juni 2022
Chinesische Regierung verstärkt Kontrolle über Finanzen der Klöster
Am 1. Juni traten neue Bestimmungen mit dem Titel «Massnahmen für das Finanzmanagement religiöser Stätten» in Kraft. Obwohl diese neuen Bestimmungen offiziell für alle religiösen Stätten in der Volksrepublik China gelten, scheinen sie speziell auf eine verstärkte Kontrolle tibetischer Klöster zu zielen und stellen damit einen weiteren Schritt zur Kontrolle und Repression der tibetisch-buddhistischen Religion dar.

Neu an den Bestimmungen, die eine vorherige Version von 2010 ablösen, ist die gemeinsame Verantwortlichkeit des Finanzministeriums und Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten. Vorher war die Rolle des Finanzministeriums nicht spezifiziert, und die Kontrolle lag beim Ministerium für Religiöse Angelegenheiten. Offenbar waren die Bestimmungen von 2010 zur Handhabung der Finanzen von den Klöstern häufig unterlaufen worden. Die neuen Bestimmungen widerspiegeln die Absicht von Partei und Regierung, Grauzonen der alten Version zu beseitigen, sowie die Kontrolle zwischen den zwei Ministerien zu koordinieren und zu verstärken.

Neu ist, dass beide Ministerien die «Anleitung» und «Kontrolle» der Klosterfinanzen übernehmen, während dieses vorher den Gremien der Klöster selbst überlassen war. Klöstern dürfen nicht länger Einnahmen aus wohltätigen Aktivitäten generieren. Spendenbescheinigungen dürfen nicht mehr durch die Klöster selbst ausgestellt werden, sondern dafür müssen nun offizielle Vordrucke der Provinzregierungen verwendet werden.

Problematisch ist eine weitgefasste Bestimmung, nach der andere «relevante Regierungsstellen» Inspektionen der Klöster durchführen können, was die Tür zur Kontrolle durch beliebige Instanzen öffnet.

International Campaign for Tibet, 1. Juni 2022

Journalistinnen werden Ziele chinesischer Online-Attacken
Ein Bericht des Australian Strategic Policy Institute ASPI (https://www.aspistrategist.org.au/smart-asian-women-are-the-new-targets-of-ccp-global-online-repression/) zeigt anhand invidueller Beispiele und Statistiken auf, wie prominente China-kritische Journalistinnen zur Zielscheibe einer Desinformations- und Diffamierungskampagne werden. Speziell Journalistinnen asiatischer Herkunft sind von Nachrichten aus gefälschten Twitter-Konten betroffen. Manche dieser Konten zielen nur auf eine Person ab, andere auf mehrere. Eine dritte Gruppe von Konten existierte schon vorher und verbreitete die offizielle chinesische Regierungspropaganda über die Covid-Pandemie, die Internierungslager in Ost-Turkestan (chin. Xinjiang), oder die Invasion Russlands in der Ukraine. Nun ändern diese Konten ihren Fokus auf betroffene Journalistinnen.

Die von diesen Konten verbreiteten Nachrichten sind teils beleidigend und bombardieren die Empfängerinnen pauschal mit Vorwürfen von Falschnachrichten über China. Noch bösartiger sind individualisierte Attacken, die persönliche Umstände oder Aspekte des beruflichen und privaten Lebens der Journalistinnen angreifen, was aufwändige vorherige Recherchen über die Betroffenen voraussetzt. Diese werden als «Verräterinnnen» und «Lügnerinnen» beschimpft, die ihr Mutterland «verraten». Mehr noch, auch ihre körperliche Erscheinung und professionelle Kompetenz werden angegriffen, oft im Kontext von ihren vorherigen Publikationen in Medien. Die Nachrichten enthalten herabsetzende rassistische und sexistische Bemerkungen oder Drohungen wie «Verräterinnen sterben schlecht» oder «Verräterinnen nehmen kein gutes Ende».

Die absendenden Twitter-Konten zeigen Profilfotos von unbeteiligten Personen, die im Internet gestohlen wurden, oder auch Gesichter, die mit künstlicher Intelligenz angefertigt sind, sogar solche von Jugendlichen. Interventionen von anderen Ländern, diese Konten zu blockieren, werden damit unterlaufen, dass stets neue Konten kreiert werden und so die Präsenz im Internet aufrechterhalten bleibt.

Statistiken und zahlreiche andere Indizien von ASPI über die Herkunft dieser Attacken weisen auf China hin. Die Attacken schwollen jeweils während der Bürozeiten in China an und nahmen zum Feierabend ab, und waren fast nicht existent während der chinesischen Frühlingsferien.

Derartige Einflussnahmen über soziale Medien sind nicht neu. Eine Studie von BBC vom 28. Mai 2020 (https://www.bbc.com/news/blogs-trending-52657434) zeigte auf, dass China seit Beginn des Jahres 2020 mit über 1'200 gefälschten Benutzerkonten versuchte, Regierungspropaganda zu verbreiten. Diese Konten verbreiteten im Wesentlichen regierungsoffizielle Meinungen über die Bewältigung der Corona-Pandemie und die Demokratiebewegung in Hongkong in sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und YouTube; bemerkenswert ist, dass diese Netzwerke innerhalb der Volksrepublik China für gewöhnliche Nutzer gesperrt sind.

Dieses Netzwerk weist auffallende Ähnlichkeiten mit dem 2019 entstandenen Netzwerk «Spamouflage Dragon» auf, das gleichermassen regierungsoffizielle Nachrichten verbreitete und Regierungskritiker mit Fluten von nutzlosen Nachrichten eindeckte.

Die Mehrzahl der dieser gefälschten Konten entstand zwischen Januar und Mai 2020. Zumeist verwendeten sie Profilbilder ohne Wissen der unbeteiligten Personen, die diese von sich anderweitig in Netzwerken gepostet haben. Dabei unterliefen auch amateurhafte Fehler, wenn zum Beispiel ein männliches Profilbild mit einem weiblichen, oft englischen oder russischen, Namen unterlegt war.

ASPI, 3. Juni 2022

 

25. Mai 2022
Tibeter sollen sich selbst die Schuld am Abriss der Buddha-Statue in Drakgo geben
Ende Dezember 2021 war in Dragko in der Präfektur Kardze im Osten Tibets eine über 30 m hohe, erst vor 6 Jahren errichtete Buddha-Statue aus Bronze auf Anordnung der Behörden abgerissen worden. Die Statue wurde seinerzeit mit Spendengeldern von Gläubigen finanziert. Dazu wurden auch 45 Gebetsräder und zahlreiche in der Nähe angebrachte Gebetsflaggen zerstört. Insgesamt 11 Mönche des Klosters wurden verhaftet, darunter der Abt des Klosters. Ihnen wurde vorgeworfen, Informationen über die Zerstörung der Statue an das Ausland weitergegeben zu haben. Mehrere Mönche wurden gefoltert, um, wie ihnen mitgeteilt wurde, «eine Lektion zu erteilen». Die Bewohner des Ortes mussten dem Abriss der Statue zusehen und sogar applaudieren [vergl. Tibet-Information vom 6. und 17. Januar 2022; UM].

Nun wird bekannt, dass offenbar die Mönche des Klosters gezwungen wurden, Selbsterklärungen zu unterzeichnen, dass sie am Abriss selbst schuld sind. Es ist nicht bekannt, worin diese «Schuld» besteht. Der Abriss wurde im Dezember damit begründet, dass die Statue die maximal erlaubte Höhe überschritten habe. Diese Begründung war nicht plausibel, weil nach Angaben der Mönche vor der Errichtung alle Genehmigungen eingeholt wurden.

Die verhafteten 11 Mönche sind wieder auf freiem Fuss, werden aber laut Informanten ständig beobachtet und belästigt.

Radio Free Asia, 23. Mai 2022

Alle privaten tibetischen Schulen im Bezirk Sershul wurden geschlossen
Auf Anordnung der Behörden in Sershul in der Präfektur Kardze im Osten Tibets wurden per 20. April alle privaten tibetischen Schulen geschlossen. Ab dann müssen die Schülerinnen und Schüler die offiziellen Schulen besuchen, in denen in chinesischer Sprache unterrichtet wird. Widerstand der Eltern werde nicht toleriert und mit Haft bedroht, teilten Informanten mit.

Die Anordnung betrifft Primarschulen in vorwiegend nomadisch besiedelten Gebieten. Sechs dieser Schulen sind namentlich bekannt; insgesamt gibt es nach Schätzungen etwa ein Dutzend über den Bezirk verstreute Schulen. Die betroffenen Eltern haben eine Petition eingereicht, in der sie die Bedeutung dieser Schulen für die tibetische Kultur und Identität betonen, aber ihr wird keine Chance auf Berücksichtigung eingeräumt.

In einem ausführlichen Bericht von TCHRD (https://tchrd.org/ch/sucked-our-marrow-tibetan-language-and-education-rights-under-xi-jinping/) wird das Beispiel einer Schule angeführt, deren Autonomie über mehrere Jahre bis zur kürzlichen Schliessung immer mehr eingeschränkt wurde. Die Schule mit etwa 130 Schülerinnen und Schülern operierte anfänglich vollkommen autonom. Sie war bekannt für sehr gute Noten, die die insgesamt etwa 500 Kinder, welche die Schule abschlossen, in weiterführenden Schulen besonders in Fächern für tibetische Sprache und Geschichte erzielten.

Die Schule verlor einen Teil ihrer Autonomie bereits 2013, als ein neuer Direktor und mehrere Lehrkräfte von den Behörden ernannt wurden. Vier Jahre später wurde der Lehrbetrieb nur noch bis Klasse 4 erlaubt, Lehrkräfte der Klassen 5 und 6 verloren ihre Arbeit, und die betroffenen Schülerinnen und Schüler mussten regierungsoffizielle Schulen besuchen. Bis 2020 hatte die Schule dennoch eine gewisse Autonomie, tibetische Kultur und Geschichte in ihrem Curriculum zu priorisieren. Dazu unterrichtete sie chinesische und englische Sprache. Dann wurden die Lehrbücher gegen die landesweit offiziellen chinesischen Bücher ausgetauscht, die laut Betroffenen die chinesische Nation und Partei «glorifizieren».

Parallel zum Regelunterricht bot die Schule seit 2012 einen Extra-Unterricht während der Winterferien an, in denen die Kinder Lektionen in tibetischer Sprache, Kultur und Geschichte erhielten. Nahezu alle 200 Schülerinnen und Schüler im Bezirk Sershul hätten diesen freiwilligen Unterricht besucht. Mehr und mehr werden diese privaten Initiativen in Tibet verboten.

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD), 18. Mai 2022

 

20. April 2022
Eltern von tibetischen Schulkindern müssen Chinesisch lernen
Behörden zwingen Eltern von tibetischen Kindern, die chinesische Sprache zu lernen. Das Programm wird als neues Element der Assimilationspolitik gesehen, die langfristig die tibetische Sprache und Kultur marginalisieren soll. Mit dem Erlernen der chinesischen Sprache sollen die Eltern ihre Kinder dazu anhalten, ebenfalls verstärkt Chinesisch zu sprechen. Mehr noch, das Programm verlangt, dass Eltern auch zu Hause mit ihren Kindern die chinesische statt der tibetischen Sprache verwenden. Darüber hinaus sollen sich die Eltern verstärkt mit den Gesetzen und Regeln vertraut machen, die sich auf den Gebrauch der Sprache beziehen.

Aus der Provinz Golog im Nordosten Tibets wurden zwischen Februar und März 16 Workshops in einer lokalen Schule abgehalten. In einem der Workshops, am 9. März, hielten die Unterrichtenden die Eltern nicht nur dazu an, ihren Kindern die chinesische Sprache beizubringen, sondern auch das «Denken zu beeinflussen». Das Lehren dieser Sprache sei ein Beitrag zum Verwirklichen des «chinesischen Traums».

Im Bezirk Nyima fand am 12. März ein ähnlicher Workshop statt, der auch von Parteikadern und Behördenvertretern besucht wurde. Die Anwesenden wurden zum Lernen der «Gebrauchssprache», sprich Chinesisch, angehalten und zusätzlich angewiesen, sich mit den Ideen des Präsidenten Xi Jinping vertraut zu machen, um diese in ihren Dörfern zu verbreiten.

Die Kampagne trifft eine überwiegend nomadische Bevölkerung, die noch stärker tibetischen Traditionen verhaftet ist, und ist zu verstehen im Kontext des im Dezember von der Regierung angekündigten Ziels, dass bis 2025 mindestens 85% der Bevölkerung die chinesische Sprache als «Muttersprache» annehmen. Die Kampagne betrifft nicht nur Tibet, sondern auch die Südliche Mongolei. In vielen Schulen sind Banner aufgehängt mit der Aufschrift «Chinesisch ist meine Muttersprache».

Eine Lehrkraft berichtet gegenüber Tibet Watch, dass auch sie verstärkt dazu angehalten werden, nicht nur im Unterricht, sondern auch miteinander in der Lehrerschaft ausschliesslich chinesisch zu sprechen. Das Beherrschen der chinesischen Sprache sei ein grosser Vorteil bei Anstellungen.

In der Provinz Ngaba im Osten Tibets werden vermehrt Polizeikräfte in den Schulen stationiert. Im Namen des «Wohlbefindens und der Sicherheit von Schulkindern» halten die Polizeikader Unterrichtseinheiten zum «Lernen des korrekten Verhaltens» ab und beaufsichtigen darüber hinaus das tägliche Verhalten von Schülerinnen und Schülern.

Tibet Watch, 14. April 2022

Sorge um Aktivisten Tashi Wangchuk
Seit dem 10. April ist der Aktivist Tashi Wangchuk nicht mehr zu erreichen. Sein Konto auf dem chinesischen Portal Weibo ist geschlossen, und bei Kontaktaufnahme erscheint die Nachricht, dass «der Nutzer nicht existiert». In den Tagen zuvor befand er sich auf einer Reise in den Nordwesten Tibets, um die Schliessung von Schulen zu dokumentieren, die in tibetischer Sprach unterrichtet hatten. Auf dieser Reise war er massiv von der Polizei behindert worden, die mehrfach in Gästehäusern intervenierten, um ihm die Übernachtung zu verweigern.

Tashi Wangchuk war zu 5 Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er nach Beijing gereist war, um eine Petition zum Erhalt der tibetischen Sprache direkt bei der Zentralregierung abzugeben. Sein «Vergehen» bestand darin, sich von einem Reporter der New York Times begleiten zu lassen. Er war im Januar 2021 aus der Haft entlassen worden, stand aber unter ständiger Polizeiaufsicht und verlor für 5 Jahre seine bürgerlichen Rechte.

Dennoch setzte er sich weiter für den Erhalt der tibetischen Sprache ein. Im Januar besuchte er mehrfach Behörden in Yushu und forderte sie auf, die tibetische Sprache im Unterricht und Behördengebrauch zu erhalten.

Seine Reise in den Nordwesten Tibets im April wurde immer wieder durch polizeiliche Interventionen behindert. Innert weniger Tage wurde er aus 6 Gästehäusern geworfen, nachdem jeweils die Polizei bei den Gastgebern interveniert hatte. Die Begründungen waren fadenscheinig: ein fehlendes Covid-Zertifikat, ein generelles Verbot, auswärtige Gäste aufzunehmen, oder die Schliessung des Gasthauses wegen «anderweitiger Probleme». Einmal drang eine Eliteeinheit der Polizei in sein Zimmer ein und zwang ihn zum sofortigen Verlassen. Bei seinem Besuch bei der lokalen Behörde, um eine Petition zum Bleiben abzugeben, wurde er Zeuge eines Anrufes der Polizei, die die Behörde anwies, ihn nicht zu empfangen. Kurz darauf erklärte ihm ein Mitarbeiter, dass derzeit niemand anwesend sei, um sein Anliegen zu hören. Weitere Behördenstellen erklärten sich nicht für zuständig und verwiesen ihn jeweils an eine andere Behörde. Diese waren aber «geschlossen».

Seine Odyssee durch die Gästehäuser und die Polizei-Intervention dokumentierte er mit Fotos auf Weibo, doch seit dem 10. April ist er von der Plattform verschwunden.

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD) und Radio Free Asia, 15. April 2022

 

5. April 2022
Selbstverbrennung vor dem Kloster Kirti – möglicherweise noch eine weitere in Kyegudo
Am 27. März zündete sich der 81-jährige Taphun morgens um 5 Uhr vor der Polizeistation in Kirti an. Zwar wurde er von der Polizei sofort wegtransportiert, jedoch ist inzwischen bekannt, dass er seinen Verletzungen erlegen ist. Taphun stammt aus dem Dorf Meruma in der Präfektur Ngaba. Er war bekannt als expliziter Kritiker der chinesischen Politik in Tibet.

Das 550 Jahre alte Kloster Kirti und die gleichnamige Ortschaft waren am häufigsten Schauplatz von Selbstverbrennungen; etwa ein Viertel der 160 bekannt gewordenen Selbstverbrennungen ereigneten sich dort. Seit Beginn der Serie von 12 Jahren wurde das Kloster unter strikte Polizeiaufsicht gestellt. Polizeieinheiten in der Stadt wurden sogar mit tragbaren Feuerlöschgeräten ausgerüstet.

Vier Tage zuvor soll sich ebenfalls ein Tibeter in Brand gesetzt haben. Von ihm ist nur der Name bekannt, Tsering Samdup. Noch fehlen Hinweise, die dieses bestätigen. Er habe sich vor einer Polizeistation in Kyegudo (auch Jyekundo oder Gyêgumdo geschrieben) in der Präfektur Yushu, ebenfalls im Osten Tibets, angezündet haben. Details über seinen Verbleib oder Zustand sind nicht bekannt. Er wurde beschrieben als eine «sehr gebildete Person».

Radio Free Asia, 31. März und 3. April 2022

China verbannt tibetische Sprache von Videos und elektronischen Medien
Gemäss einem Dekret über «Die Verbreitung von religiösen Informationsdiensten im Internet» ist seit dem 1. März der Gebrauch der tibetischen und auch uigurischen Sprache in diesen Medien nicht mehr erlaubt. Das Verbot trifft nicht nur Videos, sondern auch Medien wie die Online-Lernplattform Talkmate und den Streaming-Dienst Bilibili. Schon im November 2021 hatten beide Dienste offenbar freiwillig, oder in Erwartung des Dekrets, vorübergehend Inhalte in tibetischer Sprache blockiert. Damals wurden automatisch Nachrichten wie «…vorübergehend blockiert» oder ««Dieser Kommentar enthält sensitive Information» eingeblendet [vergl. Tibet-Information vom 15. November 2021; UM].

Die jetzt verordnete Verbannung der tibetischen Sprache betrifft auch Künstler und Künstlerinnen, die ihre Aufführungen über elektronische Medien vermitteln. Wird eine Aufführung in tibetischer Sprache gesendet, oder werden tibetische Kultur und Tradition dargestellt, wird das Benutzerkonto sofort gelöscht. Live gesendete Aufführungen werden unmittelbar unterbrochen.

Nach einem Regierungsdekret vom 20. Dezember bedarf es schon seitdem einer staatlichen Lizenz für ausländische Individuen oder Organisationen, um religiöse Inhalte innerhalb Chinas zu vermitteln.

Radio Free Asia, 23. März 2022

Restriktionen anlässlich Trauerzeremonien für verstorbenen Gelehrten
Am 30. Januar verstarb in seinem Haus in Lhasa der in Tibet hoch angesehene Gelehrte Choktrul Dawa Rinpoche im Alter von 86 Jahren. Zunächst hätten laut Informanten die Behörden versucht, die Nachricht über seinen Tod zu unterdrücken. Angehörigen sowie Schülern und Schülerinnen von ihm war es verboten, die Nachricht zu verbreiten oder Fotos von ihm zu teilen. Wer nicht in Lhasa wohnhaft war, durfte das Haus, in dem sich sein Körper befand, nicht betreten. Erst nach zahlreichen Petitionen wurde erlaubt, seinen Körper in das nahe Lhasa gelegene Kloster Ganden zu bringen, wo er gelehrt hatte. Für den Transport zur Kremation waren nicht mehr als 2 Fahrzeuge als Eskorte gestattet. Dort wurden ebenfalls nur wenige Gläubige zu den Trauerzeremonien zugelassen.

Choktrul Dawa Rinpoche verbrachte insgesamt 19 Jahre im Gefängnis. Bereits 1960 wurde er zu 5 Jahren Haft verurteilt, weil der die chinesische Invasion kritisiert hatte. Danach befand er sich während der Zeit der Kulturrevolution 7 Jahre in Haft, und schliesslich nochmals für 7 Jahre seit 2010, weil er mit dem Dalai Lama im Exil kommuniziert hatte.

Radio Free Asia, 25. März 2022

 

15. März 2022
Am 25. Februar zündete sich der erst 25-jährige Tsewang Norbu vor dem Potala-Palast an. Offenbar schaffte die dort stationierte Polizei seinen Körper unmittelbar fort. Aufgrund der strikten Zensur und Nachrichtensperre ist es nicht möglich, weitere Details in Erfahrung zu bringen. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass er verstarb. Es handelt sich um die 158. Selbstverbrennung – zumindest soweit im Ausland bekannt – seit 2009. Die letzte Selbstverbrennung hatte sich im November 2019 ereignet.

Tsewang Norbu war ein talentierter Musiker und Sänger, der gerade unter Jugendlichen in Tibet und auch im Ausland sehr populär war. Er stammt aus Nagqu nördlich von Lhasa und absolvierte eine Universitätsausbildung in Lhasa. Auch seine Mutter, Sonam Wangmo, ist eine bekannte und mit Preisen ausgezeichnete Musikerin. Während beide in offiziellen Staatsmedien oft präsent waren, verbüsst der Bruder der Mutter, Sogkhar Lodoe Gyatso, derzeit eine 18-jährige Haftstrafe. Er wurde vor 4 Jahren verhaftet, nachdem er eine Videobotschaft für eine weltweite Friedensbewegung verbreitete und am 28. Januar 2018 einen Protestmarsch um den Potala-Palast durchführte.

Noch am Tage seiner Selbstverbrennung postete Tsewang Norbu einen Beitrag auf dem in China meist benutzen sozialen Netzwerk Weibo. Sein Konto wurde unmittelbar nach seiner Selbstverbrennung gelöscht.

Radio Free Asia, 4. März 2022
International Campaign for Tibet, 9. März 2022

Hintergrund: Repressionskampagne in Dragko seit 2012
Nach einzelnen Berichten Berichte über neuerliche Festnahmen nach Zerstörung der über 30 m hohen, erst vor 6 Jahren errichteten Buddha-Statue aus Bronze, ergibt sich langsam ein grösseres Bild von einer schon seit Langem durchgeführten Repressionskampagne in der Region Dragko [vergl. dazu Tibet-Information vom 6. und 17. Januar, sowie 21. Februar 2022; UM]. Im Januar wurde, wie Satellitenbilder belegen, noch eine dritte, drei Stockwerke hohe, Statue des Gelehrten aus dem 8. Jahrhundert, Padmasambhava, abgerissen.

Nachdem erste Verhaftungen im Januar bekannt wurden, berichtet TCHRD von mindestens 10 weiteren Tibeterinnen und Tibetern, die seit Februar in Haft sind. Nur von drei Personen sind die Namen bekannt.

Offenbar befinden sich die Verhafteten in einer älteren Polizeistation. Die Thangnakma-Polizeistation nahe dem Dorf Dropa, etwa 5 km von der Stadt Dragko entfernt, wurde 2012 zu einem Internierungslager für politische Häftlinge umgebaut, nachdem es in der Region zu Protesten kam [vergl. Tibet-Information vom 23. und 26. Januar 2012; UM]. Die Unruhen von 2012 ereigneten sich im Zuge von Verhaftungen, die das Büro für Öffentliche Sicherheit vornahm. In den Tagen davor waren in Drango mehrere Flugblätter und Plakate aufgetaucht, die weitere Selbstverbrennungen ankündigten, falls China weiter die Forderungen der Tibeter ignorieren sollte. Die Polizeistation selbst war nach den Unruhen 2008 errichtet worden.

TCHRD berichtet, dass dort Protestierende seit 2012 extralegal ohne Anklage gefangen gehalten und «umerzogen» würden. Dieses erinnere an das eigentlich seit 2013 offiziell abgeschaffte System der «Umerziehung durch Arbeit», wo Betroffene allein durch polizeiliche Verfügung, aber ohne Gerichtsurteil, bis zu 4 Jahren untergebracht werden konnten.

Immer wieder wurde auch über körperliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch in derartigen Lagern berichtet. In Thangnakma müssen Gefangene offenbar auch Zwangsarbeit leisten und werden körperlich misshandelt. Ein Tibeter habe durch Misshandlungen ein Auge verloren.

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD), 24. Februar 2022
Radio Free Asia, 28. Februar 2022

Fotos der Padmasambhava-Statue https://www.rfa.org/english/news/tibet/statue-02282022155542.html
Fotos der Polizeistation: https://www.rfa.org/english/news/tibet/statue-02282022155542.html

 

21. Februar 2022
Was während der Olympischen Spiele in Tibet geschah:

Tibeter und Tibeterinnen müssen Spionage-App auf ihren Telefonen installieren
Die Bevölkerung in den Bezirken Dragyab und Chamdo wird gezwungen, auf ihren Mobiltelefonen eine Software zu installieren, die den Behörden nahezu unbegrenzten Zugriff auf ihre Daten gibt. Speziell von Interesse sind Informationen über Kontakte zu Bekannten und Angehörigen im Ausland. Die Software kann die Kommunikation in Echtzeit überwachen, dazu auch auf den Geräten gespeicherte Bilder und Videos. Angeblich habe es mehrere Verhaftungen gegeben, und die Betroffenen seien über 2 bis 3 Monate in Haft gewesen und waren dabei Misshandlungen ausgesetzt.

Tibet Watch schildert den Fall einer tibetischen Nonne, Lobsang Tsomo, die nach Entlassung aus der Haft nicht mehr ausserhalb ihres Wohnbezirks reisen darf. Angeblich seien auch noch mehrere andere Nonnen in Haft gewesen.

Tibet Watch, 11. Februar 2022

Nomaden in Arbeitslagern interniert – und Warnung an Klöster
Schon seit Januar wurden in einer offenbar präventiven Aktion vor Beginn der Olympischen Winterspiele grosse Teile der nomadischen Bevölkerung um die Region Dragko in Lagern interniert. Besonders betroffen waren Personen im etwa 50 km von Dragko entfernten Likhong. Tibeterinnen und Tibeter wurden zu lokalen Polizeiposten zitiert, wo sie befragt wurden, ob sie «politisch sensitive Inhalte» auf ihren Telefonen speichern. Wenn das der Fall war, oder sich Hinweise auf Kontakte in das Ausland ergaben, wurden sie in ein Lager nahe der Ortschaft Thangnagma gebracht. Einige seien auch freigelassen, aber kurz darauf nochmals interniert worden.

Nahezu alle Betroffenen seien Nomaden, sagte ein Informant für Radio Free Asia. Die Zahl der Internierten sei «sehr gross».

Derweil besuchte der Präsident der Kommunistischen Partei in der «Autonomen Region Tibet», Wang Junzheng, mehrere Klöster und mahnte sie, speziell im Vorfeld des 10. März, des Jahrestages des tibetischen Volksaufstandes 1959, «patriotisches und gesetzkonformes Verhalten» zu zeigen.

Radio Free Asia, 14. und 18. Februar 2022

Zum ersten Mal wird eine Polizeieinheit in einem tibetischen Kloster stationiert
Im Kloster Palyul Thartang Gonchen in der osttibetischen Präfektur Golog wurde in diesem Jahr eine Polizeieinheit stationiert, zusätzlich zu einer weiteren Einheit, die schon länger in der Nähe des Klosters lokalisiert ist. Die Angehörigen der Einheit haben laut Radio Free Asia einen speziellen Überwachungsauftrag im Kloster und zu diesem Zweck spezielle Überwachungskameras installiert, die rund um die Uhr in Betrieb sind.

Wie in Dragyab und Chamdo müssen auch hier die Mönche eine Spionage-App auf ihren Telefonen installieren. Speziell jüngere Mönche würden von den Polizisten gedrängt, chinesische Schulen in der Region zu besuchen.

Der damalige Parteipräsident in der «Autonomen Region Tibet», Zhang Qingli, hatte bereits seit den Aufständen 2008 mobile Polizeieinheiten in der Region aufgebaut, die die Klöster kontrollieren. Die permanente Stationierung in einem Kloster ist aber eine neue Entwicklung.

Radio Free Asia, 16. Februar 2022

 

25. Januar 2022
«Die Ostwärts-Ausdehnung des tibetischen Mystizismus eindämmen» - neue Restriktionen
In Sorge um die Attraktivität des tibetischen Buddhismus auch in China hat die Kommunistische Partei seit Mitte 2019 eine neue Kampagne lanciert, die den Einfluss des tibetischen Buddhismus ausserhalb Tibets signifikant einschränkt. Die International Campaign for Tibet zieht jetzt Bilanz.

Besonders betroffen ist die buddhistische Akademie Larung Gar, die seit 2001 Ziel von zwei massiven Wellen von Zerstörung und Wegweisungen von Gläubigen war. Die Zahl chinesischer Praktizierender und Studierender ist seitdem erheblich zurückgegangen, nochmals signifikant seit einer Verstärkung der Massnahmen im Rahmen der Kampagne seit letztem Herbst. Vor Anwendung der Restriktionen wurde die Zahl chinesischer Praktizierender in Larung Gar auf 2'000 von insgesamt 5'000 geschätzt. Laut Anordnung der Partei darf tibetischer Buddhismus nur noch in Tibet praktiziert werden, nicht aber in China selbst. Gläubige aus China müssen an ihren Wohnort zurückkehren und entweder zur chinesischen Variante des Buddhismus konvertieren oder aber von allen religiösen Betätigungen absehen. Wer als Mönch oder Nonne nicht in einem Kloster in China Aufnahme findet, muss in den Laienstand wechseln. Alle müssen sich nach Rückkehr aus Tibet bei der lokalen Polizeistation anmelden. Es ist ihnen auch verboten, nach Tibet zurückzukehren; zur Überwachung müssen sie sich regelmässig bei ihrer lokalen Polizeistation melden.

Die Zugangsstrassen und sogar die Bergpfade nach Larung Gar werden rund um die Uhr von Posten bewacht. In Larung Gar selbst kontrollieren die dort stationierte Polizei und die weltliche Verwaltung, das sogenannte «Management-Komitee», regelmässig die Unterkünfte.

Larung Gar förderte die Gleichheit der Geschlechter. Weit mehr als die Hälfte der 5'000 Praktizierenden waren Frauen, ebenso absolvierten 104 Frauen von insgesamt 200 Teilnehmenden erfolgreich die 12- bis 14-jährige höheren buddhistischen Studien zum Grad des Khenpo.

In China waren in den letzten Jahren zahlreiche kleine Gemeinschaften von Gläubigen entstanden, die den tibetischen Buddhismus studierten. Diese wurden intensiv von den Behörden überwacht; einige Mitglieder wurden nach Verhören gezwungen, zu Informanten zu werden.

Auch werden neuerdings virtuelle Belehrungen unterbunden. Am 1. März tritt ein neues Gesetz über die Regulierung von «Religiösen Diensten im Internet» in Kraft. Die Online-Seminare von Larung Gar, die seit letztem Jahr sehr erfolgreich angeboten wurden, sind seit November 2021 eingestellt. Individuen oder Organisationen, die Online-Belehrungen anbieten wollen, müssen sich bei den Provinzverwaltungen um eine Erlaubnis bemühen. Zugelassen sind dafür nur chinesische Staatsangehörige, die auch in China selbst leben. Laut der Parteizeitung «Global Times» sollen religiöse Online-Seminare der «sozialen Harmonie» dienen und Gläubige dazu anhalten, «das Mutterland zu lieben» und «die Gesetze zu beachten».

China ist sehr besorgt über die Hinwendung der Bürger zum Buddhismus. Insgesamt wird die Zahl der Gläubigen in China auf 185 bis 250 Millionen geschätzt, das sind mehr als die Kommunistische Partei Mitglieder hat. Die Restriktionen werden bis auf Stadt- und Dorfebene durchgesetzt. Bekanntgewordene Dekrete wenden sich gegen religiöse Stätten, in denen «feudale und abergläubische Praktiken» gepflegt werden und verbieten die Errichtung «grösserer» Buddha-Statuen ausserhalb von Bauwerken.

International Campaign for Tibet 20. Januar 2022: https://savetibet.org/containing-the-eastward-movement-of-tibetan-mysticism-targeting-chinese-buddhist-practitioners-at-larung-gar-academy/

 

17. Januar 2022
Weitere Verhaftungen und Zerstörungen in Dragko; Hühner- und Schweinefarm anstelle der zerstörten tibetischen Schule
Nach dem Abriss der Buddha-Statue in Dragko [vergl. Tibet-Information vom 6. Januar 2022; UM] werden aus dem Ort Verhaftungen und ein weiterer Abriss gemeldet.

Im Kloster Dragko wurde eine zweite, etwa 10 m hohe Buddha-Statue zerstört. Insgesamt 11 Mönche des Klosters wurden verhaftet, darunter der Abt des Klosters. Ihnen wurde vorgeworfen, Informationen über die Zerstörung der Statue an das Ausland weitergegeben zu haben. Die Mönche müssen an «patriotischer Umerziehung» teilnehmen, die Kommunistische Partei loben und die chinesische Sprache lernen. Mehrere Mönche wurden gefoltert, um, wie ihnen mitgeteilt wurde, «eine Lektion zu erteilen». Einem gefolterten Mönch wurde vorgehalten, er habe «keinen angemessenen Gesichtsausdruck» gezeigt. Abgesehen von Schlägen wurde auch berichtet, dass die Mönche gezwungen wurden, unbekleidet längere Zeit in der eisigen Kälte zu stehen.

Die Bewohner des Ortes mussten dem Abriss der Statue zusehen. Danach wurde ihnen verboten, Gebetsfahnen aufzuhängen. Ihre Öfen, die sie auch für rituelle Zwecke wie dem Verbrennen von Weihrauch nutzen, wurden zerstört.

Im Bezirk Dragko soll die Hühner- und Schweinezucht schwerpunktmässig forciert werden. Nach Berichten aus der Region werden die Anwohner mit Geld- und Gefängnisstrafen bedroht, wenn sie dieses nicht bedingungslos unterstützen. Am Ort der zerstörten tibetischen Gaden Rabten Namgyaling Schule soll eine dieser Hühner- und Schweinefarmen entstehen. Die Schule stand unter der Leitung des Klosters Dragko und bot Schülerinnen und Schülern Ausbildung in tibetischer Kultur und Religion. Zwischen 2014 und 2018 war das Gebäude renoviert worden. Die Schule musste vom Personal eigenhändig innert drei Tagen abgerissen werden, angeblich, weil sie ohne Genehmigung errichtet war [vergl. Tibet-Information vom 8. November 2021; UM].

Der Präsident des Bezirks Dragko, Wang Dongsheng, war vorher in gleicher Position der Verantwortliche für die Zerstörung der Klosterakademie Larung Gar.

Radio Free Asia, 7. Januar 2022, Satellitenbilder vom Ort der Statue vor und nach ihrer Zerstörung: https://www.rfa.org/english/news/tibet/news-01072022144013.html

Central Tibetan Administration, 14. Januar 2022

Zwei tibetische Mönche aus Dragko seit August verschwunden
Am 15. August wurden zwei Mönche, Tenzin Norbu und Wangchen Nyima, aus dem Kloster Nenang in Dragko verhaftet. Sie sind verwandt mit dem Abt des Klosters. Seitdem fehlt von beiden jede Spur; angeblich befinden sie in einem Gefängnis in Kardze ohne Kontakt mit ihren Angehörigen.

Nach Berichten von Angehörigen und Freunden seien sie schon lange von den Behörden unter Beobachtung gewesen. Ihnen sei vorgeworfen worden, unerlaubt inoffiziellen tibetischen Sprachunterricht erteilt zu haben. Einer von ihnen, Wangchen Nyima, war schon 2015 in Haft, nachdem die Behörden zwangsweise Unterrichtsklassen in seinem Kloster geschlossen hatten.

Central Tibetan Administration, 14. Januar 2022

 

6. Januar 2022
Behörden lassen über 30 m hohe Buddha-Statue zerstören
Behörden in Dragko im Osten Tibets haben eine über 30 m hohe, erst vor 6 Jahren errichtete Buddha-Statue aus Bronze abreissen lassen. Dazu wurden auch 45 Gebetsräder und zahlreiche in der Nähe angebrachte Gebetsflaggen zerstört.

Die Statue war im Jahre 2015 errichtet worden, um Erdbeben wie dasjenige, das die Region 1973 erschüttert hatte, abzuwehren. Die Kosten für die Errichtung der Statue beliefen sich auf umgerechnet ca. CHF 6 Millionen und sollen durch Spenden der lokalen Bevölkerung getragen worden sein. Der Wert der zerstörten Gebetsräder wird auf nochmals umgerechnet ca. CHF 260'000 beziffert.

Angeblich sei die Statue damals mit Genehmigung der lokalen Behörden errichtet worden. In den letzten drei Jahren seien Inspektoren erschienen und hätten die Grösse der Statue bemängelt. Der Abriss erfolgte nach Widerruf der Genehmigung, nun mit der Begründung, die Statue sei zu gross. Die Zerstörung der Gebetsräder erscheint damit aber immer noch willkürlich.

Erst im November war am gleichen Ort die Gaden Rabten Namgyaling Schule auf behördliche Weisung abgerissen worden [vergl. Tibet-Information vom 8. November 2021; UM]. Das Gebäude habe gegen ein Gesetz verstossen, das Schulbauten in dieser Zone nicht erlaubt. Die Schulleitung wurde aufgefordert, innerhalb von 3 Tagen selbst Hand an den Abriss zu legen, sonst würde die Schule durch die Regierung abgerissen und alles Inventar beschlagnahmt.

Die Schule stand unter der Leitung des Klosters Dragko und bot Schülerinnen und Schülern Ausbildung in tibetischer Kultur und Religion. Zwischen 2014 und 2018 war das Gebäude renoviert worden.

Bilder der Statue: https://tibet.net/cultural-revolution-like-crackdown-china-demolished-a-sky-high-buddha-statue-and-45-huge-prayer-wheels-in-drakgo-tibet/, Bericht in tibet.net vom 28. Dezember 2021

China unterhält grosses Netz zur Desinformation
Miburo, nach eigenen Angaben ein Analyse- und Beratungs-Unternehmen, das sich auf die Erkennung von Desinformation und Extremismus spezialisiert hat, veröffentlichte einen ausführlichen Bericht über ein der chinesischen Kommunistischen Partei zugeschriebenes Netzwerk zur Verbreitung von Falschinformationen in sozialen Netzwerken. Dahinter stehe eine Entität, von den Autoren «Spamouflage» genannt, die im grossen Stil operiert und schon vor 2 Jahren mit Verbreitung von chinesischer Propaganda in sozialen Medien auffiel.

Miburo identifizierte insgesamt 2’009 Benutzerkonten, 1’632 auf Facebook, 319 auf YouTube, and 60 auf Twitter, die sich den üblichen Identifikationssystemen der Anbieter für Desinformation entziehen. Wird ein Konto dennoch erkannt und gelöscht, erscheint kurz darauf ein neues. Die Konten vernetzen und kommentieren sich jeweils untereinander und täuschen so eine hohe Zahl von interessierten Nutzern und Nutzerinnen vor.

Das Netz ist mit Details der jeweiligen Verbindungen und Themen unter dem u.a. Link abgebildet. Thematisch widmet sich das Netz vor allem 4 Bereichen:

  • Abstreiten von Menschenrechtsverletzungen gegen die uigurische Nationalität in Ost-Turkestan (chin. Provinz Xinjiang),
  • Gegen Taiwan gerichtete Propaganda mit der Behauptung, der Westen verwende Taiwan zur «Destabilisierung», und Schlechtreden von Taiwans Rolle in internationalen Organisationen wie UNO und WHO,
  • Fälschlich positive Darstellung von Chinas Bewältigung der Covid-Pandemie und der Wirksamkeit chinesischer Vakzine
  • Propaganda-Inserate der Kommunistischen Partei ohne entsprechende Hinweise auf deren Charakter, speziell über die angeblich «patriotischen Unterstützung» für Hongkong.

https://miburo.substack.com/p/spamouflage-survives, 22. Dezember 2021

New York Times, 22. Dezember 2021

 

 

 

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